Gizmo stand zwischen Kick und Wacko. Die drei Jungen hatten die Hosen in die Kniekehlen gezogen und pinkelten ins Mesh. Der virtuelle Urin würde zufällig in einer der offenen Welten landen und einen hohlbirnigen Bot vor eine unvorhergesehene Situation stellen: sich wundern.
Pooty befand sich rechts neben der Gruppe und ahmte ihre Geste nach, aber aus verständlichen Gründen schickte das kleine Mädchen keinen gelben Strahl in die schwarze und von neongrünen Streifen durchzogene Fläche aus ungeformter Realität. Wacko hätte sie zwar durchaus in einen kleinen Jungen mit hübschem Würmchen zwischen den Beinen verwandeln können, aber Pooty war gern ein Mädchen. Außerdem mussten sie mit dem verbloggten Charge haushalten. Haushalten… Erwachsenen-Slang der vergrantigsten Art! Gizmo spuckte gedanklich aus und widerte sich selbst ein bisschen an.
Die Böse Bande wartete auf die Rückkehr von Beanie und Buzzle. Gizmo hatte die beiden losgeschickt, um den Dicken und die Brillenschlange aus Nihon und Kemet zu entführen, und zwar direkt unter den Augen der Beobachter, die Goldkrone und sein Verein aus fetten, alten Pisspötten abgestellt hatte. Sobald den beiden die Perönlichkeitsblocker entfernt worden waren, die in einem solchen Fall von rascher Wiedereingliederung benutzt wurden, würden sie sich sicher wieder an alles erinnern. Die Froschfresserin hatte gesagt, dass sie dann in das Rote Territorium gebracht werden sollten, um sich dort mit der kleinen Maus zu treffen. Und dann würden sie durch die Hölle gehen, durch die Kriege der Weltgeschichte. Um am Ende zum Hintereingang von Havens zu kommen und ihre Erinnerung wieder zusammenzukriegen.
Gizmo selbst musste die Füße still halten. Die Froschfresserin hatte gesagt, dass gerade er seit dem jüngsten Zusammenstoß mit Isis wieder oben auf der Speisekarte von Atum stand. Und seit er, der Anführer der Bösen Bande, in Weeds vom örtlichen Sicherheitssystem verwundet worden war, wussten sie auch, dass er durchaus angreifbar war. Das war kackomatisch miserabilé!
Verschizzelter Fick-Fack! Es schüttelte immer seinen Verstand durcheinander, wenn er mit der Froschfresserin Kontakt hatte. Natürlich würde er sie nie und nimmer Ma’at nennen. Es gehörte zum schlechten Ton der Bösen Bande, allem und jedem einen neuen, möglichst höhnischen Namen zu geben. Wenn Atum – Goldkrone – und seine Götterkumpels die Ordnung in Khem waren, dann waren Gizmo und seine Böse Bande das Chaos, die gottgeschaffene Nemesis.
„Gurke einpacken, Du Kick!“, ließ die für einen Zwölfjährigen viel zu tiefe Stimme von Kick vernehmen. Gizmo zog die Hose hoch. Die anderen drei schauten den Neunjährigen an. In ihrem Blick war die unausgesprochene Frage, was sie nun tun würden, bis sie wieder zu sechst waren. Es kam nicht in die Tüte, dass die Böse Bande sich Ruhe gönnte. Und es war fast immer Gizmo gewesen, der sich die fiesesten (und deshalb lustigsten) Wege einfallen lies, Goldkrone und seinen Mitgreisen in die Suppe zu spucken.
Sie waren Nimmerländer, für immer Kinder, und Atum war ihr Captain Hook. Gizmo hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon nicht mehr gealtert war.
Das war eine Lüge.
Er hatte mitgezählt. Er war gut im Zählen.
Ganz damals, als er noch in der richtigen Welt gewohnt und im Rollstuhl gesessen hatte, da hatte er alles gezählt. Wie oft sein Pfleger Phil zwinkerte. Wie viele Tage hintereinander sein Daddy nicht nach Hause gekommen war. Wie viele Tage er selbst – als er noch Oliver Granger und nicht Gizmo hieß - schon überfällig war von dem Tag an, an dem die Ärzte prognostiziert hatten, dass die Progerie ihn umbringen würde. Wie oft ihm die Windel gewechselt wurde. Und wie sehr die Windelwechselfrequenz sich mit der Zeit erhöht hatte.
Gizmo war seit 30 Jahren neun Jahre alt. Genau wie Kick seit 30 Jahren zwölf, Wacko acht, Pooty fünf, Buzzle sechs und Beanie zehn Jahre alt waren.
Jedes Mal, wenn ihm das bewusst wurde, fühlte er sich wie der knurrige Grummling aus dem irischen Märchenbuch, das er als Kind wieder und wieder gelesen hatte. Dann bekam sein eigenes Märchen plötzlich einen ekelhaften Anstrich, und er schob den Gedanken beiseite und unternahm irgendwas Derbes.
Die Froschfresserin hatte sie alle in Geister verwandelt, als ihre Körper in der richtigen Welt verwelkt waren. Und nachdem die Böse Bande ein echtes Problem für Goldkrone geworden war, da hatte er ihnen das Angebot gemacht, sie erwachsen werden zu lassen, wenn sie auf seine Seite wechselten. Und der verkickte Dervish hatte nicht nur angenommen und die Böse Bande verlassen, er hatte Goldkrone auch noch erzählt, wem sie ihr Überleben verdankten. Und als Goldkrone das erfahren hatte, da brachte er die Froschfresserin – die damals noch Temet hieß – um. Großes Drama und so. Dass sie jetzt auch ein Geist und immer noch da war, wusste er nicht.
Gizmo fühlte sich in den Augenblicken immer ziemlich schlau und gut, wenn ihm wieder einfiel, dass er in manchen Belangen besser bescheid wusste als Goldkrone selber.
Natürlich hatte die Böse Bande keine Mittel, um die Götter zu stürzen. Und die Götter waren nicht gewitzt genug, die Kinderbande zu schnappen. Diesen Status hielten sie nun schon seit langer Zeit aufrecht, und Gizmo, so selten er auch über die Zukunft nachdachte, war immer davon ausgegangen, dass es für immer so bleiben würde.
Was nun aber das Auftauchen des Dicken, der Brillenschlange und der kleinen Maus – die er und die anderen Banditen aus Versehen befreit hatten - für Auswirkungen haben würde, das vermochte Gizmo nicht zu erraten. Aber Goldkrone war bestimmt genauso ratlos. Und wie immer wusste er weniger.
Die Froschfresserin hatte gesagt, dass es wichtig wäre, den Dreien zu helfen. Also half die Böse Bande dieses eine Mal.
Was allerdings der Grund war, warum sie sich an ihr Leben vor Khem erinnern wollten, das verschloss sich Gizmo.
Er hätte nicht alles, aber eine Menge gegeben, wenn er alles vergessen hätte.
|