The Blues
09.09.2013
Momper
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„Es hätte nur einen von Euch geben dürfen.“
Bayaks Stimme glich einem leisen Kratzen auf nassem Rost. Siam und Elai legten beide verwundert den Kopf schief.
„Jeder ist jemand. Jeder ist in den Stamm gekommen, um jemand zu sein. Jeder hat einen Namen. Und mit jeder Wiederkehr wird der neue Name offenbart.“
„Aber wir sind zwei.“, sagte Elai. „Ich verstehe die Besonderheit nicht. Es kommt doch ständig vor, dass einer Älteren mehrere Junge geboren werden. Eigentlich immer.“
Bayak holte rasselnd Luft und als sie nicht die Kraft fand, selbst zu sprechen, blickte sie zu Roska.
„Das stimmt, Jüngerer. Und jedem ist ein Name gegeben. Jedem, der sein soll. Doch für Euch gab es nur einen Namen. So als...“ Sie suchte die Worte, doch es war Bayaks Stimme, die wieder erklang. „So als hättet Ihr nur einer sein dürfen. Doch aus irgendeinem Grund wurdet Ihr zerrissen und kehrtet als zwei zurück.“
„Wenn ich das richtig verstehe, Älteste,“, sagte Siam leise, „sind wir also nur einer in zwei Körpern?“ Als die Älteste nickte, fuhr er fort. „Dann sehe ich kein Problem. Dann gibt es eben zwei. Verrate mir, Älteste, wer von uns beiden trägt den eigentlichen Namen, der vorgesehen war?“
Es war ganz still in der Tiefhöhle, als weder Bayak noch Roska antworteten. In der Ferne war das Rauschen einer Straße zu hören, der schiefe Gesang vorbei eilender Blaulichter, das Summen der Schmerzdrähte auf den hohen Holzpfählen.
„Was denn? Ihr wollt es nicht sagen?“, fragte Siam und seine Stimme klang ein bisschen belustigt, als könnte er sich nicht vorstellen, dass ihm irgendwer eine Forderung abschlagen würde.
Roska verengte die Augen und zeigte die spitzen Zähne, ehe sie zum Antworten ansetzte, doch es war Bayak, die sprach.
„Keiner von Euch hat den vorgesehenen Namen erhalten. Eure Namen sind Lügen. Und Ihr werdet den Namen nicht erfahren. Ich nehme ihn mit in die Dämmerstunde.“
„Aber...“, hob Siam an und machte einen zornigen Schritt auf die Älteste zu. Elai legte seinem Bruder die linke Pfote auf den Rücken. Die Krallen waren nicht ausgefahren, also war es keine Bedrohung, sondern nur eine Unterbrechung. Da Elai und Siam gleichrangig waren, war die Sache damit beendet. Siam leckte dennoch über seine Zähne und ließ sie einen Augenblick länger als nötig unbedeckt, bevor er sich wieder setzte.
„Du bist getrennt, Jüngerer. An welcher Stelle Du zerrissen bist, vermag ich nicht zu sagen. Welcher Teil in welchem Körper steckt, das kannst Du nur selbst herausfinden.“
Damit hatte die Älteste Bayak all ihre Worte verbraucht. Sie schloss die Augen und sagte in diesem Leben nie wieder etwas.
Nach der gebotenen Stille war es wieder Siam, der sprach.
„Sie hat uns gerufen, um uns das zu sagen? Was ändert das für uns? Nichts. Sie hätte ihren letzten Atem für etwas anderes aufsparen sollen.“
„Es ist nicht an Dir, das zu entscheiden, Jüngerer.“, fauchte Roska. Dann leckte sie über ihre rechte Pfote, was anzeigte, dass ihr Zorn nicht die Oberhand gewonnen hatte. „Es gibt noch etwas. Mardokhan wird nicht ewig leben. Jemand muss den Stamm führen, wenn er uns für dieses Mal verlässt. In unserem letzten Traum sahen die Älteste und ich, dass Du es sein wirst, der den Stamm anführt.“
Sie sah keinen der beiden Brüder an.
„Wen von uns meinst Du, Ältere?“, fragte Siam.
„Du bist zwei. Wir wissen nicht, warum. Aber wir wissen, dass wir nicht von Zweien geführt werden können. Verstehst Du jetzt das Problem, Jüngerer?“
Noch ehe Siam etwas entgegnen konnte, war die Stimme von Elai zu hören.
„Nur einer von uns beiden wird den Stamm führen. Der andere...“, er blickte Siam an und brachte es offenbar nicht über die Lippen, seine Rede zu ende zu führen. Siam war ihm behilflich.
„Der andere nicht.“, beende er den Satz und begegnete dem Blick von Elai.

Meek betrachtete Siam. Der Ältere legte kaum noch Körpergewicht auf den Jüngeren. Meek hatte sich in eine bequemere Position auf die Seite gerollt, ohne dabei von Siam aufgehalten worden zu sein.
„Du bist noch hier und führst den Stamm, Älterer. Also hast Du Deinen Bruder...“
„Unterbrich niemals eine Geschichte, Jüngerer!“, fauchte Siam und in seiner Stimme lag die Kraft, die aus unangefochtener Selbstsicherheit erwuchs.
Meek legte die Ohren an und schwieg.

Alle vier Pfoten waren abgespreizt und an ein Gestell aus Holz genagelt. Er spürte den Schmerz kaum noch. Aber dass sein Bauch ungeschützt offen lag, dass er ihn nicht einmal verteidigen konnte, das war ihm immer wieder ein Dorn in der Seele.
Sein Peiniger berührte ihn nie. Er hatte nicht  einmal eine Gestalt. Aber Siam hatte seit dem ersten Mal gespürt, dass er da war, dass er immer in seiner Nähe war und ihn beobachtete. Anfangs war es nur er ein Atmen gewesen. Irgendwann hatte Siam seinen Kerkermeister aufgefordert, er möge sich ihm zeigen. Und schließlich hatte Siam eines Nachts die Stimme gehört. Zuerst war es nur wirres Kauderwelsch in einer unsinnigen Sprache gewesen. Dann wurden die Worte immer klarer. Und schließlich hatte Siam die Kreatur verstanden, auch wenn sie nie direkte Worte an ihn gerichtet hatte. Gesehen hatte er das Wesen nie.
„Du wirst mich nicht brechen.“ Siam bemühte sich, nicht ängstlich zu klingen. Er war ein Krieger, ein Vater, ein Wächter. „Ich verlange, dass Du Dich endlich zeigst und mir sagst, was Du von mir willst Nacht für Nacht.“
Wieder antwortete es nicht, aber gerade, als Siam seine Forderung wiederholen wollte, krochen Worte aus den staubigen Ecken der Dunkelheit und formten eine Stimme.
„Ambitionen. Sehr gut! Du forderst wie ein König. Weißt Du, was ein König ist? Nein, Du weißt es nicht. Das brauchst Du nicht zu wissen. Du tust es. Du tust es. König Siam. Du solltest den Stamm führen. Ich zeige Dir, wie Du das tun kannst.“
„Wer bist Du? Was bist Du?“
„Du kennst weder meinen Namen, noch meine Gestalt. Aber Du kennst meine Geschichte und Du weißt, wo ich wohne. Willst Du ein König sein? Endlich nicht nur die Hälfte eines Dinges? Ein Einziges, Ganzes sein? Du bist besser als er. Du musst ihn überwinden. Du darfst ihn nicht aufnehmen, so wie es geschieht, wenn Ihr die Toten fresst. Er muss weg. Du musst ganz und einer sein.“
„Woher weißt Du, was ich tun muss und will?“
„Ich habe Dich gemacht. Ich habe Euch getrennt. Du schuldest es dem Stamm. Er wird sterben, wenn der Alte keinen Nachfolger hat. Du wirst Schuld sein. Deine Feigheit wird sie alle töten.“
Siam erwachte. Wieder dieser Traum. Er sollte mit der Ältesten darüber reden. Wie immer nahm er es sich vor, wenn es seine Zeit erübrigen würde. Und wie immer würde er es nicht tun. Er hatte dem Ding im Traum schon zuviel gesagt. Unsinn! Es war nur ein Traum. Und würde er der Ältesten etwas davon sagen, dann würde sie zuviel von ihm sehen. Und von dem, was er tun konnte.
Jedes mal, wenn er diesen Traum träumte, führten seine Pfoten ihn ganz selbstverständlich zu dem dritten Tor. Heute war keine Ausnahme. Siam betrachtete das unscheinbare Zeichen an der Wand, den Putz und die wie zufällig verteilten Insignien, die wie Müll aussahen. Er wusste, dass andere Wächter ihn jetzt sahen. Aber keiner außer Elai würde jemals die Stimme gegen Siam erheben oder irgendetwas in Frage stellen, das der kräftige Kater tat oder tun würde.

„Du willst wissen, was mit Elai geschah?“
Siam starrte Meek in die Augen. Noch vor einer Weile wäre Meek dem Blick ausgewichen in der Hoffnung, nicht allzu frech gewesen zu sein. Jetzt hielt er dem Blick stand.
„Du hast ihn getötet. Um den Stamm zu beherrschen.“, wagte Meek zu sagen. Nichts anderes würde Sinn ergeben.
„Schlimmer.“, antwortete Siam nach einem Augenblick Schweigen.

„Warum müssen wir uns hier treffen?“
Elai schaute sich wachsam um. Die Brüder waren sich seit der Offenbarung in Bayaks Tiefhöhle vor ein paar Jahren mehr und mehr aus dem Weg gegangen, weil sie nicht wussten, wie sie nun miteinander umgehen sollten. Die Ereignisse hatten sie zu Konkurrenten werden lassen. Sie waren in der Zwischenzeit erwachsen geworden, hatten eigenen Nachwuchs und Pflichten im Stamm. Aber es wurde Zeit, das Problem endlich zu lösen.
„Hast Du Angst, Bruder?“, fragte Siam.
„Nur ein Narr hätte hier keine Angst. Das ist eines der Tore. Wir sollten hier nichts besprechen, was von Belang ist. Wir wissen nicht, wer zuhört.“ Elais Blick wanderte zu dem Siegel.
„Du hast Recht, Bruder.“, entgegnete Siam nach einem Augenblick der Stille. Seine Stimme war so weich wie das Fell eines Neugeborenen. „Nur ist es so, dass ich heute Nacht das Siegel bewache und folglich nicht fort kann. Und dass wir beide uns unterhalten ist bitter nötig. Mardokhan stirbt.“
Elai nickte knapp.
Der Älteste des Stammes war vor ein paar Nächten von einem der rollenden Eisenhäuser überfahren worden. Seine ganzer Leib waren gebrochen, und sein Atem ging nur noch schwer. Andere Kater mit seinen Wunden wären langst in die Dämmerstunde gegangen. Mardokhan lebte nur noch aus Sturheit, sagten einige. Roska hatte eine Versammlung zusammengerufen und vom bevorstehenden Tod des Älteren geredet. Und dass es einen neuen Führer geben würde. Wann immer Siam oder Elai seitdem auftauchten, folgten ihnen die Blicke der anderen. Der bevorstehende Wandel des Stammes lag in der Luft. Aber da niemand wusste, wer ihn nach Mardokhans Tod führen würde, konnte niemand erahnen, in welche Richtung der Wandel den Stamm führen konnte. Es wurde Zeit für eine Entscheidung.
„Ich sehe nur einen Weg, diese Sachen zwischen uns zu entscheiden.“, sagte Siam. „Wir kämpfen bis zum ersten Blut.“
„Solche Kämpfe finden vor den Augen der anderen statt.“, argwöhnte Elai.
„Niemand wird das Wort von Siam oder Elai in Frage stellen. Wenn Du mich besiegst, dann werde ich es jedem sagen. Und ich habe keinen Zweifel, dass Du meinen Sieg auch jedem verkünden wirst. Außerdem ist die Zeit zu knapp, um noch eine Versammlung einzuberufen. Roska sah Mardokhans Tod für heute Nacht voraus.“
Und dann griff Siam seinen Bruder an. Die Wucht des muskulösen Körpers riss den anderen herum. Beide überschlugen sich mehrmals, kamen aber rasch wieder auf die Pfoten und setzten erneut nach. Die Brüder schenkten sich nichts. Wo eine Pfote niederging, war der Gegner bereits ausgewichen. Und oft rollen die Körper – zu einem Knäuel verschlungen – über den Boden, wenn einer einen wilden Ansturm gewagt hatte.
Gerade nahm Siam Anlauf für einen weiteren kraftvollen Sturmangriff, als Elais Stimme dem Kampfrausch ein Ende setzte.
„Halt!“ Nur ein Wort.
„Was ist?“, fragte Siam. Elai hob die rechte Pfote. An seinen ausgefahrenen Krallen glänzte nass das rote Blut. Und dann erst spürte Siam einen einzelnen Tropfen Blut in die linke Augenhöhle fließen. Er spürte den schneidenden Schmerz seines zerfetzten rechten Ohres und der brüllenden Stelle über dem linken Auge. Elai hatte ihm mit einem einzigen Hieb die Herrschaft geraubt und das Zeichen des Verlierers quer über seinen Schädel gemalt.
Seine Pfoten bewegten sich von allein. Der Ansturm war brutal und mit mehr Kraft, als er eigentlich hätte haben dürfen.
Ambitionen. Sehr gut!
Kurz bevor Siams Körper auf den seines Bruders traf, fuhren tausend kleine Dornen aus dem fuchsbraunen Fell. Als die Körper zusammenprallten, drangen die Dornen in Elais Körper ein, zerschnitten Muskeln, Sehnen und Knochen.
Elai machte kein Geräusch, als er starb.
Als Siam wieder zu sich kam, war die Nacht beinahe zuende. Er erkannte Roskas Unterkunft in Bayaks alten Tiefhöhlen. Dann drang ihre Stimme in sein Bewusstsein.
„Komm zurück, Siam. Komm zurück.“
Er schlug die Augen auf.
„Was ist geschehen, Älteste? Wo ist Elai?“
„Elai hat noch vor dem Morgengrauen den Weg zurück in den Stamm gefunden. Die anderen haben ihn wieder aufgenommen. Und was geschehen ist, das musst Du uns sagen.“
„Wir wurden angegriffen. Ich weiß nicht, von was.“
„Ihr habt beide tausend kleine Stichwunden gehabt. Er starb daran. Du lebst. Keine Katze kann das gewesen sein.“
Ich habe Dich gemacht. Ich habe Euch getrennt.
Siam hatte keine Antwort für Roska. Schließlich war es die Ältere, die die Stille durchbrach.
„Du musst wieder zu Kräften kommen. Mardokhan ist ebenfalls gestorben. Du bist jetzt der Anführer des Eisenbruchstammes.“

Meek wusste, dass Siams Geschichte jetzt zuende war.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum Du mich töten willst, Älterer.“
Siam blickte Meek an und legte den Kopf schief.
„Sie haben Elai wieder aufgenommen. Er ist immer noch Teil des Stammes. Und solange das so ist, solange bin ich nur die Hälfte von etwas. Und solange wird es jemanden geben, der sich an das erinnern kann, was ich getan habe.“
Meek verschlug es den Atem, als er es plötzlich wusste.
„Du hast einen Pakt mit ihm. Du bist verbündet mit dem, der im dritten Tor gefangen war. Du hast ihn befreit.“
„So ist es. Und es gibt nur einen, der davon etwas wissen kann. Es gibt nur einen, der meine Gedanken teilt und erraten kann.“ Siam näherte sein zerfurchtes Gesicht dem von Meek. „Wir sind beide der Teil eines Ganzen. Ich habe Dich gleich erkannt. Aber diesmal wirst Du nicht wiederkehren... Bruder.“
Noch ehe Meek hätte reagieren können, schlossen sich Siams Kiefer um seine Kehle. Meek spürte, wie die Zähne des Älteren tief in sein Fleisch eindrangen. Und dann sprossen die Dornen aus dem Fell des Älteren, so als bestünde sein gesamter Körper nur noch aus grauenhaft verdrehten Zähnen. Meek spürte keinen der vielen Stiche mehr, die seine Muskeln, seine Sehnen und seine Knochen zerschnitten. Als Siam seinen Kopf zurückzog und die Hälfte von Meeks Kehle noch immer in seinem Maul hatte, da hatte der jüngere Kater seinen Körper bereits verlassen und driftete ins Nichts.
09.09.2013 20:31
WTF!! Was um Himmels Willen ist Siam?!
Ich sehe schon: Da kommt noch was auf uns zu!

Sehr schön bildhaft geschrieben. :)
10.09.2013 09:07
Meek! NEIN!

Wow...
Na das kann ja noch was werden...
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