The Blues
14.07.2013
Momper
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„Nur zwei haben überlebt. Sag das den anderen weiter.“, sagte die Botin.
„Welches Geschlecht haben sie?“, fragte der Bote.
„Beides sind Männchen.“
Die Botin leckte ihre linke Vorderpfote, was dem Gewicht ihrer Antwort eine Beiläufigkeit geben sollte, die nicht angebracht war. Der Bote unterbrach sie, als er eine seiner Pfoten auf ihre legte. Da er die Krallen nicht ausgefahren hatte, durfte sie keinen Angriff darin sehen.
„Roska hat zwei Männchen in den Stamm zurückgebracht?“, fragte er.
„Das klingt ja, als könnten Weibchen entscheiden, wen sie zur Welt bringen.“
„Aber sagt man nicht, dass Roska...“
„Du scheinst die oberste Regel zu vergessen, Jähriger!“, unterbrach sie ihn mit einem Fauchen, „Geschichten sind Geschichten. Nur was Du selbst gesehen hast, ist eine Wahrheit.“
Der Bote war in eine leichte Verteidigungshaltung gegangen. Dann wich er noch mehr zurück und verschwand schließlich.

Meek hatte beinahe vergessen, dass er auf dem Rücken lag und wie unbehaglich er sich dadurch fühlte. Siams Stimme war jetzt sehr leise und beinahe angenehm sanft.
Das musste Siams Erzählstimme sein. Katzen brachten anderen Katzen Erfahrungen bei, indem sie sie erleben ließen. Und wenn das nicht ging, dann erzählten sie so sanft und leise, dass niemand sonst es hören konnte. Alles, was Meek bisher von Siam beigebracht bekommen hatte, waren Erlebnisse gewesen. Um so überraschter war er darüber, dass ein kleiner Teil sich wünschte, Siam hätte ihm einmal etwas mit dieser Stimme beigebracht. Und dann fiel Meek ein, dass Siam im Augenblick ja nichts anderes tat.
Die letzten Worte der Erzählung hingen noch zwischen ihnen und verblassten ebenso langsam wie Siams warme Atemwolke.
„Eines dieser Männchen war ich.“, nahm Siam die Geschichte wieder auf.

Er hatte seinen Stamm noch nie komplett versammelt gesehen. Jetzt aber bemerkte er, wie die Augenpaare der anderen nach und nach leuchtend aus der Dunkelheit erschienen. Es fühlte sich beeindruckend und gleichzeitig beruhigend an, seine gesamte Verwandtschaft hier zu wissen. Nach der Tradition des Stammes brachte jedes Mitglied den Neugeborenen etwas Lebensnotwendiges bei. Also hatte er jeden von ihnen schon kennen gelernt, aber dass sie jetzt alle hier waren, gab diesem Moment eine überwältigende Bedeutung. Der Namensritus.
Sein Bruder war bei ihm. Und so wenig er es sich auch anmerken lassen wollte, die Anwesenheit des anderen Überlebenden aus Roskas Frühlingswurf gab ihm die nötige Ruhe, um seine Unsicherheit zu verbergen. Außer ihm und seinem Wurfbruder hatten sich noch andere Jüngste eingefunden, um heute ihren Namen zu erfahren.
Er betrachtete sie alle – nicht zuletzt, um sich ein bisschen abzulenken – und stellte fest, dass er, verglichen mit einigen anderen der Jüngsten, auf jeden Fall ein Gewinn für den Stamm sein würde. Einer von ihnen war eindeutig ein Milchloser, einer, dessen Mutter bei der Geburt gestorben sein musste. Normalerweise starben solche Jüngsten ebenfalls, aber manchmal war einer dabei, der zäh genug war, um zu überleben, bis er gefunden und von einer anderen Katze angenommen wurde. Solche Jüngsten hatten immer irgendeinen körperlichen Makel. Manche von ihnen waren auch einfach verrückt. Dieser Milchlose hier war jedenfalls dünner und kleiner als die anderen, und seinem Fell fehlte der Glanz. An einigen Stellen war es sogar dreckverkrustet und verfilzt. Es würde sich herausstellen, wie lange dieser Milchlose überleben würde. Ihm überhaupt einen Namen zu geben war vielleicht überflüssig.
Die Ankunft des Älteren Mardokhan vertrieb jeden Gedanken aus seinem Kopf. Als er sich setzte, löste sich die Gestalt der Ältesten Bayak aus der Dunkelheit und gesellte sich zu ihm. Mardokhans Stimme zerschnitt problemlos die Dämmerung.
„Ihr werdet hervortreten, wenn ich Euch ansehe. Dann nennt die Älteste Euch Euren Namen. Und alle anderen werden ihn hören und wissen.“
Und dann ging es los. Die anderen Jüngsten wurden allesamt vor ihm und seinem Bruder genannt. Das ärgerte ihn ein bisschen. Seit sie hier erschienen waren, hatten alle nur sie beäugt. Er hatte das Gefühl, dass sie irgendwie wichtiger waren als die anderen. Warum gewährten sie dann all den anderen Jüngsten – selbst dem Milchlosen – vor ihnen die Ehre?
Ceira, Dozer, Rannad, Fizzler. Namen, die man sich merken musste.
Und dann blickte Madokhan zu ihm und seinem Bruder.
„Tretet hervor, Jüngste.“, sagte der Ältere leise, und die beiden Brüder folgten dem Befehl.
Die Älteste Bayak war bei den anderen Jüngsten sitzen geblieben. Jetzt aber erhob sie sich und zog langsam an den beiden Kleinen vorbei. Ihre Schnurrhaare strichen ab und an behutsam über das Fell der Brüder. Dann schnupperte die Alte. Und einmal biss sie den beiden auch unsanft in die Flanken und hatte jedem ein Stück Fell ausgerissen. Keiner der Brüder zeigte eine Reaktion. Dann setzte die Älteste sich wieder an den Platz.
Schweigen.
Er wurde ungeduldig, denn das hatte bei den anderen nicht so lange gedauert. Was, wenn etwas schief gelaufen war? Was, wenn es irgendeinen Fehler gab und sie am Ende gar keinen Namen bekommen würden? Was, wenn...
„Dieser da,“, sagte die Älteste und blickte zu ihm, „trägt den Namen Siam.“
Ihre Augen blickten nun zu seinem Bruder.
„Und dieser wird Elai heißen.“

Meek versteifte sich noch ein bisschen mehr. Etwas an dieser Geschichte rührte an ihm. Siam machte eine kurze Pause und schien sich seiner überlegenen Position so sicher zu sein, dass er sogar die linke Pfote hob und einen Augenblick an ihr leckte. Meek wäre in diesem Augenblick nicht auf den Gedanken gekommen, einen Fluchtversuch zu unternehmen.
„Weißt Du, warum die Älteste damals so lange brauchte, um Namen für die beiden Brüder zu finden?“, ergoss sich die dunkle Stimme von Siam wieder in die Nacht.
„Weil es von Anfang an nur einen Namen hätte geben sollen. Ein zweiter war nie vorgesehen.“, antwortete Meek, ohne noch zu hinterfragen, woher er das wusste.
Siams Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen.
„So ist es.“, antwortete er und stellte die linke Pfote wieder in die alte Position und verteilte sein Gewicht auf dem viel kleineren Körper von Meek.

„Lass uns sehen, wer von uns zuerst bei ihr ankommt.“
Die Herausforderung in Elais Stimme war deutlich zu hören. Ohne zu antworten preschte Siam los und schoss an seinem Bruder vorbei, bevor der ebenfalls das Rennen aufnahm.
Die beiden Jüngeren kannten keine Hindernisse. Sie sprangen über Mülltonnen, setzten zielsicher die Pfoten an die richtigen Stellen des Eisenzauns mit dem beißenden Draht (an dem schon manche andere Stammesmitglieder Fell und Blut gelassen hatten), setzen nur zwei Pfoten auf den Rostwagen unter dem Moosdach, und einmal trauten sie sich sogar nahe an einen der Schläfer heran, der in einem der Häusereingänge wohnte und immer nach Schweiß und saurem Atem roch. Elai hatte einen Vorsprung und wagte einen tollkühnen Hakenschlag zwischen den angewinkelten Beinen des Menschen hindurch. Siam setzte noch einen obendrauf, als er auf die Knie des Schläfers sprang, die Krallen ausfuhr und sich so kräftig abstieß, dass der Mann laut fluchend aufwachte und versuchte, eine der beiden Katzen zu packen. Aber Siam oder Elai zu packen würde niemandem auf dieser Welt gelingen.
Schließlich erreichten die Brüder das Haus mit der eingefallenen Wand, in dessen alten Tiefhöhlen Bayak ihr Quartier hatte. Gerade als sie um die Ecken spurteten, entdeckten sie die Gestalt von Roska, die vor dem Eingang saß und zu warten schien. Das erst brachte die Brüder zum stehen.
„Ihr seid schon aus weiter Entfernung zu hören, Jüngere.“, sagte Roska ruhig.
Es war Elai, der zuerst aussprach, was beide Brüder dachten.
„Mutter, Dich hier zu sehen ist überraschend. Wir hörten, dass die Älteste Bayak uns zu sich gerufen hat.“
„Ja, auf meine Bitte hin.“, antwortete Roska.
„Und worum geht es?“, fragte Siam.
Roska blieb stehen.
„Es sind zwei Dinge.“, sagte Roska, ohne die beiden anzusehen. „Bayak liegt im Sterben. Und mir als ihrer Schülerin obliegt nun die Gunst, sie durch die Dämmerstunde zu begleiten.“
Siam sah, dass Elai den Kopf schief legte.
„Und das zweite?“, fragte Siam.
Roska ließ einen Augenblick vergehen, ehe sie antwortete.
„Sie und ich hatten einen letzten gemeinsamen Traum. Einen, den wir beide schon einmal hatten.“ Und nach einer Pause fügte sie hinzu: „Er betrifft Euch beide. Und er wird Auswirkungen auf den ganzen Stamm haben.“
Dann setzte sie lautlos den Weg fort und verschwand im Mauerloch. Die Brüder folgten ihr.

Meek stellte fest, dass er jetzt ganz entspannt unter Siam lag. Nichts in ihm wehrte sich noch.
„Was hat der Traum den beiden erzählt?“, unterbrach er die eingetreten Stille.
Siam schien für einen Augenblick mit seinem Verstand gar nicht hier gewesen zu sein. Als hätte er selbst durch die Schleier der Dämmerung geblickt und etwas entdeckt, das seine Aufmerksamkeit erregt.
Dann richtete er den Blick wieder auf Meek und holte Luft, um fortzufahren.
15.07.2013 22:00
Uuh! Da bin ich ja gespannt, was da noch auf uns zu kommt!
Auf jeden Fall sind diese Einblicke in die Katzengesellschaft sehr aufschlussreich und stimmungsvoll.
Teil 2?
15.08.2013 19:50
Was Sonata sagt!
Ich warte ungeduldig!
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