The Blues
26.05.2013
Momper
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Er konnte die Blicke der Hunde auf sich spüren. Er wagte nicht, auch nur einen davon anzusehen. Einer der Älteren seines Stammes hatte ihm einmal erzählt, dass man den Grund der Seele eines jeden Lebewesens erblicken konnte, wenn man ihm tief in die Augen sah. Und bei Hunden war das noch einfacher, weil sie aus irgendeinem Grund ihre Seele frei offenbarten. Weiter hatte man ihm beigebracht, Hunde könnten besser als alle anderen Lebewesen die Seelen anderer lesen. Wenn das stimmte, dann wussten sie, welche große Angst Meek in diesem Augenblick hatte. Aber dann wussten sie auch, dass er nicht hier war, um sie zu betrügen. Vermutlich wussten sie sogar, dass er hier war, weil er heute Nacht alles verloren hatte, was ihm bekannt war und weil er jetzt nicht wusste, wohin er überhaupt noch gehen sollte. Meek hatte sich in seinem kurzen Leben noch nie so unglücklich und allein und bedroht gefühlt.
Seit er mit dem Hund, der ihn mitgenommen hatte, hier angekommen war, hatte es viel Gekläffe und Geknurre gegeben. Meek hatte den Namen seines Retters erfahren. Joker wurde mit Respekt behandelt. Meek nahm an, dass er so etwas wie ein Älterer war, auch wenn er wusste, dass Hunde anders funktionierten. Er hatte einmal erfahren, dass Hunde, egal wie alt sie waren, wieder zum Jüngsten ernannt werden konnten. Das hatte Meek nicht verstanden, denn man konnte doch nicht wieder jünger werden. Aber bisher hatte es nie eine Rolle für ihn gespielt. Joker verhielt sich jedenfalls wie ein Älterer. Und einmal hatte er sogar einem Hund in die Kehle gebissen und ihn zu Boden gedrückt, als dieser sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Dabei war Meek unsanft zwischen den beiden zu Boden gestürzt und durfte seitdem allein gehen, auch wenn Joker ihm deutlich klar gemacht hatte, dass er besser nicht versuchte, wegzulaufen.
Meek hatte das Gebell in der Nacht gehört. Er hatte gehört, wie die Hunde umher rannten und zu einer Versammlung riefen. Jetzt roch er den Speichel von Joker an seinem Nackenfell. Er roch die Erregung der versammelten Hunde. Sie bildeten einen Gang und begrenzten ihn rechts und links von Meek und Joker. Und wann immer er doch einmal scheu nach links und rechts blickte, sah er, wie sich die Hunde erhoben, wie sich ihre Ohren aufrichteten, als würden sie Beute entdeckt haben. Einem neugierigen Teil von Meek fiel auf, wie verschieden Hunde doch aussahen. Die Mitglieder des Eisenbruchstammes hatten verschiedene Fellfarben und waren verschieden groß geraten, aber eine Katze sah eben immer aus wie eine Katze. Bei den Hunden war das anders. Einige der Hunde waren klein und struppig mit hängenden Ohren. Einige hatten kurzes Fell, andere langes, einige sahen aus, als wären sie ein bisschen geschmolzen im Gesicht, andere waren groß und schlank mit hervortretenden Muskeln, und wieder andere waren ebenfalls groß, aber rund wie behaarte Mülltonnen. Aber sie alle schienen wie ein einziges Wesen zu funktionieren, als wären sie die Gliedmaßen eines einzigen gemeinsamen Denkers. Einige zeigten offen die Zähne. Einige knurrten. Und wenige beobachteten nur still aus schwarzen Augenschlitzen.
Meek setzte jeden seiner Schritte mit Bedacht und achtete auf seine Bewegungen. Seine Pfoten kamen ihm im Augenblick besonders klein und wenig beeindruckend vor. Dabei hatte er vorhin Nosri damit zum Bluten gebracht. Und Fizzler hatte gesagt, dass seine Krallen scharf waren. Und dann war Fizzler vom Dach gestürzt. Und Siams Brut hatte versucht, auch Meek umzubringen. Meek war sich sicher, dass er Siam immer mit Ehrfurcht und nach den Regeln des Stammes gegenüber getreten war. Es gab keinen Grund, warum der Ältere seinen Tod wollte oder ihn überhaupt irgendwie bemerkenswert genug finden konnte, um sich weiter mit ihm zu beschäftigen. All das war ein böses, unglückliches...
„Halt“, riss ihn die Stimme des größten Hundes der Welt aus seinen Gedanken. Meek hörte die Knochen in seinem Hals knirschen, als er den Kopf hob, um ihn anzusehen. Die Stimme war noch tiefer als die von Siam, und Meeks feiner Tastsinn hatte ein leichtes Vibrieren im Boden gespürt. Dieses Ungetüm musste für die Hunde das sein, was Siam für den Eisenbruchstamm war. Vielleicht nicht der Älteste, aber derjenige, dem die anderen zuhören mussten.
Alle anderen Hunde verstummten. Joker erschien neben Meek und tat dann etwas seltsames. Er legte sich vor dem riesigen Hund auf den Boden und rollte dann auf den Rücken, so dass sein Bauch und sein Hals frei und ungeschützt waren. Meek war allein bei dem Anblick unwohl und er musste wieder an vorhin denken, als Nosri ihn in die gleiche Haltung gedrängt hatte. Der große Hund beugte sich nach unten und schnupperte einen Augenblick lang an den entblößten Stellen von Jokers Bauch und Hals. Dann richtete er sich wieder auf. Joker rollte sich schließlich ebenfalls wieder auf die Seite und nahm eine sitzende Position ein.
„Sprich, Wächter!“, kläffte der große Hund.
„General, ich habe heute Nacht etwas gerochen, das ich noch niemals gerochen habe.“, sagte Joker mit einer ruhigen Stimme. „Etwas, das nicht hierher gehört oder lange nicht mehr da war. Ich kenne alle Gerüche. Und weil es meine Pflicht ist, alles zu wissen, was es zu wissen gibt in diesem Revier, bin ich dem Geruch gefolgt. Ich fand...“
„Warum hast Du nicht nach Verstärkung gerufen?“, unterbrach der General ihn.
„Die Rudel wären nicht schnell genug zur Stelle gewesen.“
Ein kehliges Knurren entrang sich dem General. Viele der anderen Hunde taten es ihm gleich und reagierten auf die mögliche Beleidigung. Joker sprach unbeirrt weiter.
„Ich unterschätze die Schnelligkeit und Stärke der Rudel nicht. Und auch nicht ihren Mut. Aber ich... ich wusste einfach, dass es das richtige war, dem Geruch zu folgen. Und es stellte sich als gut heraus, General. Denn als es mich schließlich bemerkte, entkam ich nur mit knapper Not. Vielleicht wären weniger erfahrene Wächter nicht entkommen.“
„Das erklärt nicht, warum Du es dem Feind gestattest, hierher zu kommen.“
Der General schaute Meek nicht an, aber er wusste, dass er mit der Bezeichnung gemeint war.
„Er hat seine Hilfe angeboten.“, antwortete Joker.
„Seine Hilfe?“ Die Stimme des Generals klang belustigt, aber eine feiner Unterton Verbitterung war nicht zu überhören. „Seit wann scheren sich Katzen um die Belange anderer?“ Jetzt fiel sein Blick auf Meek. „Ist das ein Trick, Schnurrer? Schicken sie einen Welpen, um uns auszuspionieren? Ist das ein weiterer hinterhältiger Zug in unserem uralten Spiel?“
Meek spürte, wie nun alle zu ihm blickten. Aber vor allem der Blick des Generals lastete auf ihm wie die Pfoten von Nosri, als sie ihn angegriffen hatte.
„Ich weiß etwas über die Tore.“, wagte er zu sagen. Und seine Stimme kam ihm so dünn vor wie seine kleinen Pfoten.
Der Kopf des Generals schoss nach unten und verharrte vor Meeks Gesicht. Fauliger Atem. Heiß. Feucht. Meek legte die Ohren an.
„Wir wissen alles über die Tore. Ihr glaubt, wir wüssten nichts. Aber das stimmt nicht. Wir wissen von den fünf Toren. Wir wissen, dass es Gefängnisse sind. Wir wissen, wer darin steckt. Und wir wissen vor allem, wer die dunklen Gefangenen dort hineingesteckt hat. Es sind keine Katzen gewesen, die ihre Leben aufs Spiel gesetzt und geopfert haben. Es waren unsere Vorfahren. Unser Blut. Die Rudel der Graupelze, der Ungezähmten, der Schneeschläfer, der Weidenwächter. All die Helden, deren Blut heute in unseren Adern fließt. Und was habt Ihr getan? Ihr habt zugesehen und uns sterben lassen. Wir kennen die Geschichte so gut wie Ihr.“
Meek versuchte, sich zu erinnern. Es war die uralte Roska, die ihm diese Geschichte erzählt hatte. Ein einmaliges Ereignis. Hunde und Katzen im Einklang. Raben flogen zwischen ihnen. Freunde in der Luft. Bären und Wölfe und Adler und Ratten. Selbst die Menschen mussten es bemerkt haben, obwohl sie nie irgendwas bemerkten. Nur wenige konnten überhaupt sehen. Ein mächtiger Feind. Kein Name. Fünf Gesichter. Feuer. Tod. Roskas müde Stimme, die wie warmes Wasser über Meeks kleinen Körper floss. „Du musst das wissen.“, hatte sie gesagt, als er wiedergeboren und noch ohne Namen war. „Wir sind die Bewahrer. Wir sind die Augen und Ohren der Stadt. Die Wölfe sind verhungert. Die Bären sind vergiftet. Die Adler sind verschwunden. Worte sind Gift. Gift tötet Bande.“ Die Ratten glaubten Lügen und waren verdreht. Feinde. Die Hunde glaubten Lügen und waren verdreht. Keine Freunde mehr. Die Raben... Die Raben waren die einzigen, die wie die Katzen noch die Wahrheit kannten. Aber sie waren im Himmel und nicht in den Straßen.
Erst jetzt bemerkte Meek, dass er irgendwie versunken war in Roskas Stimme und dass er nicht mehr bemerkt hatte, dass die Rede des Generals noch gar nicht beendet war. Meek bemerkte, dass die Worte des Generals die Hunde in eine angriffslustige Stimmung versetzt hatte. Selbst Joker spannte die Muskeln an, als würde er gleich auf ein Ziel zuspringen. Die Hunde knurrten, einige schnappten nach anderen, und einige wenige blickten unverhohlen lüstern zu der kleinen Katze in der Mitte der erregten Meute.
Erst später wurde es Meek gewahr, wie stark und klar und fest seine Stimme gewesen sein musste, als er die Hunde übertönte.
„Wir haben nie aufgehört, unsere Pflicht zu erfüllen. Wir haben sie bewacht. Mit all unseren Leben. Das dritte Tor ist aufgebrochen. Wir wissen nicht, wie es dazu kommen konnte. Aber zwei Schwestern und ein Bruder sind gefallen und verloren. Und Ihr wisst, was es bedeutet, wenn eine Katze alle Leben verliert.“
Ein Hund nach dem anderen verstummte. Und Meek fühlte sich, als würde er jetzt mit Roskas Stimme sprechen. Mit ihrer Sicherheit. Mit ihrer Weisheit. Nicht mit der schwachen Stimme eines jungen Schnurrers, der erst vor kurzem die Augen geöffnet hatte.
„Der Namenlose, den Eure Vorfahren darin eingesperrt haben, dessen Gefängnis unsere Vorfahren bewacht haben – und dessen Einflüsterungen sie widerstehen mussten – ist jetzt frei. Er wird seine Diener erwecken und versuchen, seine vier Brüder ebenfalls zu befreien. Und wenn ihm das gelingt, dann sind wir alle verloren. Es gibt keine Bünde mehr zwischen uns. Und die Menschen, mit deren Schutz wir beauftragt wurden, wissen jetzt sogar noch weniger als damals.“
Meek dachte nicht mehr über seine Worte nach. Tatsächlich kam es ihm so vor, als würde er auf eine Erinnerung zurückgreifen. Und das machte auch irgendwie Sinn. Roska hatte davon gesprochen, während er zwischen ihren Pfoten geschlafen hatte.
„Wir müssen etwas tun. Etwas, das größer ist als die Gräben zwischen uns.“
Und dann war er schlagartig wieder ganz Meek. Klein und unsicher zwischen Feinden, von denen jeder einzelne ihn besiegen konnte. Erst jetzt bemerkte er, dass er irgendwie auf eine Mülltonne gesprungen war und zu den Hunden herabblickte. Selbst der General sah von oben nicht viel größer aus als die anderen. Die Meute blickte zu ihm auf. Schließlich war es der General, der die eingetretene Stille unterbrach.
„Und was soll nun geschehen?“
Meek wusste darauf keine Antwort. Diese Frage hatte er sich überhaupt nicht gestellt.
„Ich weiß es nicht.“, gestand er. „Aber ich weiß, wer die Frage beantworten kann. Roska. Die Älteste. Sie weiß alles.“
„Wenn Du jetzt mit ihm mitgehst und unsere Geheimnisse verrätst, wirst Du aus dem Stamm verstoßen und nie wiederkehren.“, kam ihm die Stimme von Trench in Erinnerung. Meek wusste, dass der Ältere recht hatte.
„Aber ich glaube,“, fuhr er schließlich fort, „ich werde in meinem Stamm nicht mehr willkommen sein.“
Wieder schwiegen die Hunde, und wieder war es der General, die das Schweigen brach, als er sich an Joker wendete.
„Wächter, bringe den Schnurrer zu den Grenzen unseres Reviers. Kehre danach zurück.“ Und mit einem Blick zu Meek fügte er hinzu:
„Wir werden darüber beraten, was wir mit Dir anstellen. Und mit dem, was Du gesagt hast.“

Es war schon eine Weile vergangen, seit Joker ihn in der Nähe eines Eisenzaunes abgesetzt hatte und wieder verschwunden war, als Meek sich endlich beruhigte. Er hatte keine Ahnung, woher er die Worte und den Mut genommen hatte, um zu tun und zu sagen, was er getan und gesagt hatte. Und er war so sehr in Gedanken versunken, dass er den Angreifer erst dann bemerkte, als der ihn seitlich gerammt, auf den Rücken gedreht und mit starken Pfoten zu Boden gedrückt hielt. Das Gesicht des Angreifers schob sich in Meeks Blickfeld. Fuchsrotes Fell. Eine kahle Stelle über dem linken Auge. Das gespaltene rechte Ohr. Siam.
„Ich weiß nicht, wie Du sie alle drei besiegen konntest.“, raunte die große Katze. „Vermutlich haben Deine kläffenden Freunde meine Kinder getötet.“
Und wieder kam es Meek so vor, als würde er nicht mit seiner Stimme sprechen und Mut aus einer Erinnerung schöpfen, die nicht seine eigene sein konnte.
„Verrate mir wenigstens, warum Du mich töten willst, Siam.“
„Du wagst es, einen Älteren mit seinem Namen anzusprechen, Jüngerer? Und noch dazu mich.“
„Ich will, dass es Sinn ergibt.“
Siam fauchte und entblößte seine Fänge.
„Also gut.“ Seine Stimme ergoss sich wie schwarzes Öl in die Nachtluft. „Ich lasse Dir die Gnade zuteil werden und erzähle Dir eine Geschichte, bevor ich Dich töte. Ich denke, das schulde ich Dir, Jüngerer.“
26.05.2013 20:24
Der kleine Knirps vor dem Hundetribunal!
Ich bin ja jetzt echt mal gespannt auf Siams Geschichte!

Schön geschrieben jedenfalls!
26.05.2013 21:36
großartig!
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