Ich komme an der alten Druckerei vorbei und sehe die Baufahrzeuge. Arbeiter stellen ein Schild auf, das Abrissarbeiten ankündigt. Die rostigen Bauzäune sind zuerst weggenommen worden. In den frühen Neunzigern wurden sie aufgestellt. Aber die Dinger haben niemals irgendwen davon abgehalten, das Gelände trotzdem zu betreten. Die Graffitis reichen bis hoch zur zweiten Etage. 30 Jahre Zeitgeist auf verputzten Steinen. Initialen von unzähligen Paaren. Konservierte Schwüre. Wir haben die Zäune immer mit der Lecter-Maske verglichen. Und manchmal waren wirklich Monster dahinter. So wie im Film. Jetzt sind alle Monster weg. Und meine neue Übergangsjacke kann die Kälte nicht abhalten. Der Frühling kotzt mich jetzt schon an.
„Jedenfalls ist es... ich fühle mich so ausgebrannt und müde. Ich stelle mir immernoch jeden Tag den Wecker, weil es mir das Gefühl gibt, ich hätte was zu tun und einen geregelten Ablauf.“, sagt der Neue, der sich als Peter vorgestellt hat, „Aber dann liege ich im Bett und sehe einfach keinen Grund, aufzustehen.“ Eine der Frauen – Beate oder Britta oder so – räuspert sich. Das machen die Leute immer, wenn sie jemandem reinquatschen und ihren Senf dazu geben, aber so tun wollen, als würden sie darauf warten, dass ihnen das Wort erteilt wird. Damit es OK ist. Ohne abzuwarten, ob Peter überhaupt hören will, was sie zu sagen hat, plappert sie los. „Ich weiß genau, wie Du Dich fühlst, Peter. Als ich arbeitslos wurde, war das wie ein tiefes Loch. Ich fühlte mich wie auf ein Abstellgleis geschoben, ohne zu wissen, ob ich da je wieder weg komme. Aber es gibt Wege. Du bist nicht allein. Das zu wissen hat mir damals so sehr geholfen.“ Sie steht drauf. Wie alle Sitzkreis-Junkies holt sie sich ihren Wohlfühlkick dadurch, dass sie belegt, wie viel sie schon gelitten hat. Alle nicken und Peter fühlt sich verstanden. Britta-Beate lächelt mütterlich und verliert sich ein bisschen in der Zuneigung der anderen. Ich kann sehen, wie ein bisschen Traumzeug aus ihr rausquillt wie eine fette Raupe aus einem viel zu dick gewebten Kokon. Da die anderen in einer Diskussion über das Seelenheil der Heulsuse versinken, bemerkt keiner, dass ich der Raupe eine schneidige Beleidigung entgegenpfeffere. Das scheint ihr zu gefallen, und sie wälzt sich in meine Richtung. Britta-Beates Traumzeug hat den kühlen Beigeschmack bitterer Asche. Aber ich bin nicht wählerisch.
„Hast Du irgendwas dazu zu sagen, Norbert? Du hältst Dich bisher sehr zurück. Aber vielleicht hast Du ja schon eine ähnliche Situation erlebt und kannst Peter ein Stück weit auffangen.“, sagt da die Stimme von Pascal, und plötzlich schauen alle zu mir. Ich gucke zurück zu ihm. Ein Stück weit. End-Zwanziger. Diplom-Psychologe. Frisch von der Uni. Einer, der beseelt ist von dem Gedanken, alles richtig zu machen. Mit seinen Löckchen und der Nickelbrille erinnert er mich an Rainer Langhans. Würde Rainer Langhans vielleicht aus Pascal heißen, wenn er später geboren wäre? Ich schulde ihm eine Antwort. Also räuspere ich mich auch. Vielleicht versteht Britta-Beate meine kleine Anspielung. „Eh, ja.“, sage ich und merke, wie mir die Blut bis in die Spitzen meiner Ohren schießt, als ich mich an Peter wende, „Ich finde, Du jammerst ganz schön rum.“ Jetzt gucken sie alle entgeistert. Ich lass mich nicht unterbrechen, als Britta-Beate sich wieder räuspert. „Du – Klappe halten.“, sage ich zu ihr, und sie keucht und sieht dabei aus wie die böse Hexe Ursula aus dem Arielle-Film. „Es ist nicht, dass Ihr alle immer wieder das Gleiche erzählt, seit mein Arzt mich zwingt, mir einmal in der Woche Euer Geseier anzuhören. Was mir wirklich, WIRKLICH an Euch mit Euren diagnostizierten Depressionen und Neurosen auf die Nerven geht, ist, dass keiner von Euch auch nur einen Finger krümmt, um irgendwas zu ändern.“ Ich deute auf jeden in der Gruppe. „Du – such Dir halt einen neuen Job. Du – sag Deinem Stecher, dass Du weißt, dass er Dich betrügt. Und Du – Oh Gott! - hör auf, Dir diese blöden Dinger in die Nase zu stecken, dann findest Du vielleicht endlich jemanden, der Dich vögelt. Ihr alle gebt Euch damit zufrieden, bemitleidet zu werden, als wäre das das einzige, was Euch noch am Leben hält.“ Jetzt versucht Pascal, mich zu unterbrechen. Ich halte eine Hand in seine Richtung und mache weiter. „Und wenn es wirklich so ist, dann... dann weiß ich nicht, warum auch nur einer von Euch noch weitermachen will.“ Ich hole Luft und kotze dann das letzte aus. „Eure Passivität macht mich krank.“ Ich wende den Blick zum Therapeuten. „Patrick, oder wie auch immer Du heißt, ich glaube, diese Gruppe ist nicht das Richtige für mich.“
Ich schnappe mir meine Jacke und spaziere zum Ausgang. Dabei versuche ich, so gelassen wie möglich zu wirken, damit sie nicht merken, wie peinlich es mir ist, dass ich mich so hab gehen lassen.
„Was ist mit Dir?“, höre ich die Stimme von Pascal, „Was hast Du bisher unternommen?“
Ich halte nicht an, als ich rausgehe.
Zwei Tage später fahre ich wieder an der alten Druckerei vorbei, weil ein Auftrag mich in die Gegend führt. Die Mauer ist schon weg. Das kniehohe Gras aus dem Hinterhof ist abgeschnitten, und man kann die rissigen Betonplatten sehen. Die Arbeiter sehen einem Vermessungstechniker zu, der gerade die hintere Wand des Gebäudes begutachtet. Hungrig daneben stehen mit hängenden Schaufeln bereits die Bagger. Und es will einfach nicht wärmer werden in dieser Scheißstadt.
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