Sir Tajan von Grunwald betrat entschlossen die Höhle. Hinter sich konnte er die Schritte von Novalie und Fira hören. Alle Hindernisse auf dem Weg zu Erethain Wolfsteins wilder Behausung waren überwunden. Es wurde Zeit, diese Geschichte zu beenden und die Frau in Sicherheit zu bringen. Sollte sich irgendein Priester mit dem Fluch beschäftigen.
Seine Augen brauchten einen Augenblick, ehe sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erst erkannte er, dass noch jemand mit ihnen in der Höhle war.
Die Gestalt des Mannes, der sich ihnen als Rabe vorgestellt und der sie auf dem letzten Stück ihrer Reise begleitet hatte, drehte sich zu ihnen um. Der zerschlissene Mantel des Mannes raschelte bei der Bewegung, als würden Federn aufeinander reiben. Was Tajan aber erschreckte war das Gesicht der Kreatur. Rabe hatte immer die Maske mit dem krummen Schnabel getragen. Jetzt erblickte der Edelmann das von grob vernähten Narben übersäte Gesicht eines entfernt menschlich aussehenden Mannes. Hinter sich hörte er Novalies Schritte abrupt stoppen und Fira erschreckt die Luft einziehen. Dann erst vernahm er das schmatzende Geräusch der Klinge, die Rabe aus Erethains Brust zog. Die Frau lag auf dem Boden in ihrem Blut. Noch ehe sich die Hand des Ritters zu seinem Schwert bewegen konnte, erklang die Stimme des Raben. Wie immer war sie dunkel und schwer, wie ein schwarzer Vorhang aus Samt, der sich ihm über die Sinne legte. Der Tatsache, dass Novalie nicht irgendeinen ihrer Zauber wirkte, entnahm er, dass auch sie von der Stimme der Kreatur gebannt war. Tajan und seine beiden Gefährtinnen konnten nichts anderes tun, als den Worten des Raben zu lauschen.
„Kein lebendes Wesen kennt die Geschichte von Lärche, dem Morgensänger, und Sereshan, dem Nachtvogel. Und dem Wolf, der beide verschlang.
Einst lebte Lärche, der dem jungen Menschengeschlecht entstammte, in tiefer Liebe verbunden mit Sereshan, in deren Adern das Blut der stolzen Alten floss. Beide waren große Heiler und Sänger, und ihr Haus war weit bekannt. Keinen wiesen sie ab, und oft waren sie die letzte Hoffnung der Todgeweihten.
Lärche war der Morgensänger und hatte sich dem Morgenfürsten zugewandt, der in allen Richtungen viele Namen trägt.
Sereshan war ein Kind der Waldheiligen, welche ebenfalls mit vielen Namen benannt wird.
Ihr Haus stand jedem offen, der Hilfe benötigte.
So kam Wolfstein, den Lärche verletzt fand, ins Haus der Sänger. Er lag still und gesundete viele Tage lang.
Und dann beging Lärche seinen Fehler.
Es war die Zeit der Sonnenwende, und er ritt dann immer nach Norden, um die Sonne zu besingen.
„Beim Licht des vierten Tages erwarte mich von Norden.“, sagte er zu Sereshan. Und dann ritt er fort.
Der Verwundete hatte es gehört, und als der Morgensänger fort war, erhob die Bestie sich von ihrem Lager und kam über den Nachtvogel.
Denn Wolfstein war ein Räuber, und die Pfeile, die seinen Leib verletzt hatten, waren von seinen Opfern verschossen worden. Und er, von seinen Mordkumpanen verlassen, wäre gestorben, hätte der verdammte Morgensänger ihn nicht gefunden.
Drei Tage und drei Nächte dauerte es, bis Sereshan endlich brach und starb.
Als der Morgensänger am vierten Tag dann von Norden her kam, empfing ihn kein Gesang des Nachtvogels und kein Harfenspiel und keine gefiederten Boten der Geliebten. Und als er schließlich über ihr kniete, da zerbrach auch er.
Wahnsinn kam über ihn und unendlicher Zorn. Da sprach er einen mächtigen Fluch, wie nur Zaubersänger es vermögen, über Wolfstein, der längst geflohen war:
„Ich verfluche Dich, Mörder Wolfstein, der Du alles nahmst, was Sinn mir gab. Verflucht seiest Du mitsamt Deines Blutes! Der Geist jenes Tieres, das Du im Namen trägst, soll Dich fressen Jahr um Jahr! Mit Einsamkeit sollst Du geschlagen sein! Und der Segen des Morgenfürsten und der Waldheiligen sei Dir und Deinem Blute auf ewig verwehrt! Brennend soll die Sonne Dich stechen von nun an. Und alle Tiere sollen Feind Dir sein, bis dass Ihr alle zerschlagen seid oder die Vergebung des Zaubersängers über Euch kommt.“
So sprach Lärche, und es geschah.
Wenn ein Zaubersänger aus solch starkem Zorn, aus Verzweiflung und Hass einen Fluch ausspricht, dann ist dieser Fluch mächtig. Doch wie alle Dinge hat er einen Preis. Und jener, den der Morgensänger zu zahlen hatte, war hoch.
Lärche war es gleich, wie hoch der Preis sein würde. Denn nun wollte er seiner Liebe folgen und wandern mit ihr unter goldenen Blättern und silbernen Sternen.
Doch ein Mann des Morgenfürsten wählt nicht den Freitod. Und so zog der Morgensänger fort, um einen zu finden, der ihn im Kampfe erschlagen würde.
Lange Jahre dauerte die Suche, denn Lärche, der Morgensänger, war geübt mit der Klinge. Narben und Verwünschungen fand er, aber keinen, der ihn besiegte. Doch endlich traf er einen, der besser war, und der erschlug ihn.
So starb Lärche und betrat die lichten Hallen seines Gottes.
Doch als er auf die Knie sank und das lichtgekrönte Haupt des Morgenfürsten schaute, gesellte sich die Waldheilige hinzu. Und beide sprachen:
„Du hast das Schicksal vieler gemacht, Morgensänger. Verwehrt ist Dir jetzt der Eintritt in die goldenen Hallen. So lange auf Erden wandelt, was Du erschaffen, so lange sollst auch Du wandern. Dies sei Dein Preis, Spielmann.“
So sprachen der Morgenfürst und die Waldheilige, und es geschah.
Vergebung oder Vernichtung.
Wie hätte Lärche vergeben können?
Jener, der einmal Lärche war, schlug die Augen wieder auf mit Schmerzen am Leib von all den Schwertstreichen und schließlich der letzten, tödlichen Wunde. Und er beschloss, zu sein wie der, der dem Wolf folgt in all den Geschichten.
So wurde ich Rabe, der Wolfbegleiter.
Lange habe ich der Brut Wolfsteins nachgestellt und jeden einzelnen vernichtet. Wie zum Hohn haben sie den Fluch verdreht. Käufliche Mörder wurden viele. Schwerthuren und Menschenjäger andere. Sie benutzten die Macht, die ich ihnen gegeben hatte, zu ihrem Vorteil, nutzten den Fluch, um Leid zu säen.
Jahrhunderte lang folgte ich ihnen durch dunkle Gassen, durch vergiftete Thronsäle, über steinige Pässe und nebelverhangene Leichenfelder. Und ich sah die Reiche meines einstigen Muttervolkes steigen und fallen. Ich sah Bettler zu Königen werden und Könige zu Bettlern. Ich sah sie kommen und gehen. Kriege, Hoffnungen und Asche.
Ich habe keinen Tränen mehr.“
Dann war der Bann beendet. Tajan zog die Klinge aus der Scheide, und er konnte deutlich hören, dass Fira ihr Messer ebenfalls in die kleinen Hände nahm. Aus Novalies Richtung vernahm er kein Geräusch, aber er wusste, dass die hochmütige Zauberin genau dann am gefährlichsten war.
Rabe lächelte müde.
„Ich wünschte, Sir Tajan, Ihr und ich hätten uns in einem anderen Leben kennen gelernt. Es hätte mich stolz gemacht, Euch meinen Freund zu nennen. Euch meinen Hauptmann zu nennen. Wer weiß, vielleicht hätte ich Euch sogar Bruder genannt.“
Dann richtete er die eigene Klinge nach vorn.
„Ein Mann des Morgenfürsten wählt nicht den Freitod.“
Tajan erspürte die lederne Umwicklung seines Schwertgriffes, umfasste hart die hölzernen Griffe des Schildes. Dann erst übersprang er die kurze Distanz, die ihn von Rabe trennte, und begann den Kampf.