Amy Monfort
14.01.2012
Sonnata
Kommentare: 2
Amy zog ihre Kopfhörer von den Ohren und ließ sie an dem Bügel um ihren Hals hängen, als sie an der Reihe war. Sie legte ihre Bezahlkarte auf die dafür vorgesehene Halterung und beobachtete die Digitalanzeige darüber.
Das Rauschen aus ihren Kopfhörern war nicht besonders laut. Eigentlich hätte sie gern weiter zugehört, aber die Leute fanden es unhöflich, wenn man über Kopfhörer Musik hörte, während man mit ihnen sprach. Also nahm sie sie dafür immer ab.
Sie warf der jungen Frau, die an der Kasse saß, einen beiläufigen Blick zu, und erschrak, als diese sie unverhohlen neugierig musterte. Amy schaute auf ihren Teller auf dem Tablett und wartete darauf, daß sie weitergehen konnte.
"Liz?" fragte die Kassiererin.
Amy schaute überrascht auf und sah sich dann verunsichert um. Nein, sie hatte tatsächlich mit Amy gesprochen.
"Nein." antwortete sie perplex. "Amy"
"Oh. Entschuldige." Die Kassiererin lächelte sie freundlich an. "Ich dachte, wir kennen uns. Nichts für ungut."
Amy überlegte gerade noch, ob sie darauf noch etwas freundliches erwidern sollte, als der Typ, der neben ihr in der Reihe stand, ungeduldig seufzte und auf seine Uhr schaute.
Amy warf ihm einen kurzen Blick zu. Er trug einen weißen Kittel und sein Stethoskop um den Hals.  Unwillkürlich suchte sie nach Blutspuren auf dem makellosen Weiß und entfernte sich einen Schritt von ihm.
Der Betrag war inzwischen von der Karte abgebucht worden und Amy legte sie wieder auf ihr Tablett neben ihr Buch, versuchte, der Kassiererin zuzulächeln und machte, daß sie weiter kam.
Hm. Vielleicht hätte sie ihr doch noch etwas nettes sagen sollen.
Naja. Zu spät.
Liz. Amy kannte keine Liz. Aber... dann mußte es doch eine Liz in dieser Stadt geben, die ebenfalls pechschwarz gefärbte Haare mit ausrasiertem Undercut hatte und sich smokey eyes und blasse Haut schminkte. Amy grübelte noch darüber nach, als sie mit dem Tablett auf dem Weg in den ruhigeren hinteren Bereich der Mensa ging, daher fiel ihr der hochgewachsene junge Mann zu spät auf, der mit dem Rücken zu ihr gewandt, plötzlich in ihrem Weg stand.
Sie erschrak und stoppte sofort. Allerdings kamen dabei die Dinge auf ihrem Tablett ins Rutschen. Den Teller konnte sie mit einer Hand aufhalten, aber das Buch und die Karte fielen herunter. Für Sekundenbruchteile starrte sie ihn nur an und er bewegte sich nicht.
Sie schaute auf blonde Locken, die von einem Zopf gebändigt wurden, darunter eine
schwarze Biker-Lederjacke mit diversen Aufnähern, die einen schlanken Oberkörper
ahnen ließ.
Schon fragte sie sich, ob er einer von jenen war, die niemand außer ihr sah, aber dann drehte er sich um und musterte sie überrascht. Sein feines, klares Gesicht bildete einen
reizvollen, aber durchaus passenden Kontrast zur Jacke und dem Rest seiner Aufmachung.
Mein Gott, bist Du schön! ging es Amy durch den Kopf.
Amy riß ihren erschrockenen Blick von ihm los und schaute nach ihrem Buch und der Karte.
Ehe sie aber noch reagieren konnte, bückte er sich schon danach und legte ihr beides auf das Tablett.
Überrascht registrierte sie, daß ihr Buch über Hebammen im frühen Mittelalter durch den Fall an einer bestimmten Seite aufgeschlagen war. Die Seite zeigte einen Holzschnitt, auf dem ein junger Mann und eine junge Frau gerade in eine innige Unterhaltung vertieft waren, und sich offenbar gerade näher kamen. Diese Abbildung erinnerte sie so sehr an die Tarotkarte "Die Liebenden", daß es ihr den Atem verschlug.
"Tschuldige..." sagte er und Amy schaute ihn mit großen Augen an.
Er lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu und folgte dann seinen Freunden, die bereits am Ausgang warteten.
"Nichts passiert..." erwiderte Amy zu spät. Er hörte sie nicht mehr.
Amy seufzte und setzte ihren Weg zu einem ruhigen, freien Tisch fort.

Als Amy schließlich Feierabend hatte, war es bereits dunkel geworden. Es war eine laue Nacht und sie beschloss, einen kleinen Umweg über den Friedhof zu machen.
Wieder einmal staunte sie darüber, wie hell das Mondlicht war.
Sie liebte diesen Weg. Hier war es still. Die Grabsteine waren zum Teil mit Moos bewachsen und es standen knorrige, dicke Bäume am Wegesrand.
Sie atmete tief durch und lächelte. Die sorgsam gepflegten Gräber gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Ordnung. Irgendjemandem war es ein Bedürfnis, sie liebevoll und ansprechend zu gestalten und Amy war dankbar dafür.
Ein sanfter Wind zischte durch die Zypressen und Amy freute sich schon auf den Teil des Weges, der nun unmittelbar vor ihr lag. Hier stand eine geflügelte Engelsfigur auf einem der Gräber und die Ausstattung in diesem Bereich war ein wenig opulenter als auf dem Rest des Friedhofs.
Das Mondlicht schimmerte auf den Konturen der mannshohen Figur und Amy nahm sich einen Moment Zeit, diesen friedlichen Anblick zu genießen.
Im weichen silbrigen Mondlicht waren die Konturen des fein geschnittenen Gesichts besonders gut auszumachen. Amy lächelte und schlenderte weiter.
Ein Stück weit entfernt lag das Grab von Mister und Misses Avery. Amy glaubte, seine Gestalt zu erkennen. Ja, dort stand er, die Hände vorn zusammengelegt, als warte ein junger Mann auf seine erste Verabredung, und schaute sich suchend um. An einem trüben Nachmittag, erinnerte sie sich, hatte sie Mrs Avery gesehen, die die Blumen auf seinem Grab pflegte.
Er hatte daneben gestanden und sie liebevoll dabei beobachtet. Amy lächelte und schaute wieder einmal genauer auf den Grabstein. Nein, ihre Seite trug noch immer keine Gravur.
Ruhig lächelnd sagte sie zu ihm: "Keine Sorge. Sie kommt schon noch. Irgendwann."
Er lächelte ihr zu, ein wenig schief, aber erleichtert. Trotzdem würde er dort stehen bleiben und weiter auf sie warten. Das machte er fast jede Nacht.

Zu Hause in ihrer Souterrain-Wohnung zündete sie ihren Weihrauch an, legte ihre momentane Lieblings-CD auf und drehte sie so laut, daß sie sie noch in der Küche hören konnte. Lächelnd schob sie sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen und freute sich auf den Moment, wenn sie endlich die Füße hochlegen konnte, als es an der Tür klingelte.
Stirnrunzelnd öffnete sie.
Gegenüber stand der Schöne aus der Kantine. Er schien sie nicht zu erkennen und Amy war dankbar dafür.
"Die Musik..." begann er.
Amy hob das Kinn und wappnete sich innerlich für die nun unweigerlich folgende Schimpftirade über die Lautstärke.
"Ist das deine CD?" fragte er, "Kann ich mir die mal ausleihen?"


Darkness is a state of mind. I can go where you would stumble.
(Wolfsheim: Blind)
14.01.2012 19:51
Das Amy wie es leibt und lebt. Schön, mal wieder in die Survivors-Zeit mitgenommen worden zu sein.
15.01.2012 12:40
Keine bleibenden Schäden hinterlassen. Sehr schön :D
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