Träumen in Bad Liebenau - Josefine
27.01.2016
Sonnata
Kommentare: 2
Sie brauchte sich nur im Spiegel anzusehen und fand sich einer Figur aus einem Horrorfilm gegenüber. Noch vor ein paar Tagen war sie ein ganz normales Mädchen gewesen.
Jetzt war es, als wäre sie zwischen die gelben zerlesenen Seiten eines Märchenbuches geraten.
Die Nachtluft war mit gespannter Erwartung erfüllt, die man atmen konnte. Sie freute sich darauf, von Kopf bis Fuß von diesem frischen kühlen Duft erfüllt zu sein. Der Wind erzählte wispernd von Geschichten. Hinter Steinen und Moos lauerten Geheimnisse, von denen sie nie etwas geahnt hatte und die Menschen in ihrer Umgebung und in der Stadt verwandelten sich. Es gab bedrohliche Bösewichte in weißen Kammern, strenge Hüterinnen der Geheimnisse in der Bibliothek, die sie mit zurückgelegtem Kopf durch die halbe Lesebrille taxierten, gefallene gealterte Ritter, die den Kopf in den Händen verbargen und junge, unerfahrene Königsöhne und -töchter, die ihre Augen öffneten. Ihnen oblag nichts geringeres , als die Rettung der Helden. Die Rettung der Welt. Es blieb ihnen einfach nichts anderes übrig, weil es weit und breit niemand anderen gab, der über ihre Fähigkeiten verfügte.
Mit all der Zuversicht und Hingabe von Novizen machten sie sich daran, ihre heilige Quest zu erfüllen. Noch kannten sie diese neue Welt kaum, daher war es um so wichtiger die weißen Ritter zu befreien und um sich zu scharen, bevor die finsteren Magier, die bereits ihrer Fährte zu folgen schienen, ihnen zu nahe kommen konnten.
Aber was auch immer geschehen mochte, Josefine konnte sich nicht vorstellen jemals den Zauber und die Attraktion dieser Tage und Nächte zu vergessen oder ihre Bedeutung zu relativieren. Sie mußten auch den gefallenen Ritter wieder zu altem Glanz zurückführen.
Er war ein Schlüssel. Einer von vielen. Es war noch nicht vorbei. Es gab so viele Türen zu öffnen! So viele Schätze zu finden, Feuer, die man wieder entzünden musste und Schatten, die man meiden musste.
Nur gut, daß die normalen Jungen und Mädchen aus ihrer Klasse nichts ahnten.
Josefine ließ ihren Blick schweifen, während sie in der Reihe der anderen Mädchen aus ihrer Klasse stand. Sie trug einen Badeanzug, wie die anderen auch und ihre Haare hatte sie mit Spangen festgesteckt. Die Schwimmlehrerin ließ sie alle nacheinander vom Ein-Meter-Sprungbrett ins Schwimmbecken springen, um ihre Technik zu begutachten. Das Schwimmteam der Schule suchte immer geeignete Teilnehmer.
Die Reihe schritt weiter voran und Josefine hing immernoch teilweise ihren Gedanken nach, während sie beiläufig beobachtete, wie ein Mädchen nach dem anderen vor ihr die wenigen Stufen erklomm und hier im tiefen Bereich ins Wasser sprang, um dann der Länge nach bis zur anderen Seite zu kraulen. Doch plötzlich, als sie nah genug am Beckenrand stand, um hineinzusehen, entdeckte sie unter der unruhigen verwirbelten Oberfläche die Umrisse einer riesenhaften Gestalt. Erschrocken hielt sie den Atem an und starrte mit großen Augen ins Wasser. Die Oberfläche beruhigte sich nie genug, um wirklich etwas zu erkennen, aber sie glaubte, grüne Schuppen auszumachen und einen roten gezackten Kamm, der wohl vom Kopf aus den Rücken entlang lief. Zwei Reihen weißer, spitzer Zähne - wie bei einem Hai - klappten ein paarmal spielerisch auf und zu, mehrere Fangarme ringelten sich träge um den Leib und manchmal stiegen kleine Wolken von Luftblasen auf und zerplatzten an der Wasseroberfläche.
Josefine schluckte. Als Kind hatte sie immer großen Respekt vor dem tiefen Bereich des Schwimmbeckens gehabt, bis sie dann Schwimmen gelernt hatte, aber damals war es einfach nur ein Schwimmbecken mit tiefem Wasser gewesen.
Dieses Ungeheuer dort unten war derartig absurd, daß es sich dabei nur um so etwas wie den Plastikritter handeln konnte. Nur unheimlicher.
Davon mußte sie den anderen erzählen!
"Josefine!" riss die strenge Stimme der Lehrerin sie aus ihren Tagträumen und Josefine fuhr erschrocken zu ihr herum.
"Du bist an der Reihe. Komm schon, nicht trödeln!" und schon klemmte sie wieder die Trillerpfeife zwischen ihre schmalen Lippen.
Josefine schluckte noch einmal und stieg mit einem mulmigen Gefühl im Bauch die Stufen hinauf.
27.01.2016 09:37
Eine wunderschöne Fabel aus modernen Tagen, die einen gleich in die richtige Stimmung zaubert!
27.01.2016 19:25
Ich liebe es, wie beflügelt dieser Text ist. Das ist der Geschmack. Das ist, wie es sich anfühlt. Ich bin froh.
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