Joker folgte der Spur der nunmehr zwei Schnurrer weiter vorsichtig und mißtrauisch entlang des Pfades.
Gleich wäre er an der Stelle, an der er den Kleinen abgesetzt hatte. Er lauschte aufmerksam, aber es war nichts zu hören, das auf die Anwesenheit eines anderen Lebewesens hingedeutet hätte.
Er schlängelte sich durch ein dichtes Gebüsch und blieb in dessen Schutz erst einmal stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. In der kleinen Lichtung vor ihm war niemand zu sehen und als er Witterung aufnahm, wehte nur noch ein schwacher Nachhall zweier Katzen zu ihm herüber. Joker stutzte. Wo war der Kleine?
Er verließ das Gebüsch und schnupperte am Boden nach der Fährte, immer in halbkreisförmigen Bögen, wie man es ihn gelehrt hatte. Weit kam er nicht. Die Fährte, die dann wiedergefunden hatte, führte quer über die kleine Lichtung und endete an einem ... Maulwurfshügel?
Joker legte überrascht den Kopf schief. Sollte das irgendeinen Sinn ergeben? Sicherheitshalber untersuchte er das Umfeld des Erdhaufens, aber den Kleinen witterte er nicht mehr. Nur noch den anderen. Er kehrte zum Erdhügel zurück. Es roch hier definitiv nach dem Kleinen. Der Geruch wurde nicht schwächer, aber irgendetwas daran versetzte Joker in Unruhe und so etwas wie Abscheu. Noch einmal betrachtete er die aufgeschichtete Erde und witterte mit zuckender Nase.
Dann begann er zu graben, wie seine Instinkte es ihm befahlen.
* * *
Mae tastete in Gedanken nach dem Schnuller in ihrer Manteltasche. Sie schob den Einkaufswagen voran, ohne groß auf den Weg zu achten. Sie folgte ohnehin fast immer automatisch denselben festen Bahnen. So viel zum Nachdenken in der letzten Zeit!
Visionen, Ereignisse. Schatten. Katzen, die vom Himmel fielen. Das Erwachen.
Sie brauchte etwas Zeit, um nachzudenken und schob ihren Wagen durch den Park in die stilleren, schmaleren Trampelpfade. Hier war sie nicht oft, aber sie konnte sich an eine winzige Lichtung erinnern, die von dichtem Gebüsch umgeben war. Hier hatte sie einmal sehr gut geschlafen. Die Trampelpfade wurden schmaler und das Buschwerk immer dichter. Es wurde schwierig, den Einkaufswagen über die Wurzeln und durch die Ranken zu schieben und Mae ging voran und zog den Wagen hinter sich her. Ungefähr in der Mitte stellte sie fest, daß sie den Wagen nicht weiter würde ziehen können und ließ ihn stehen. Vom Weg aus war er sicher nicht mehr zu sehen. Sie arbeitete sich weiter durch das Geflecht aus Zweigen vor und erreichte schließlich nach wenigen Schritten den Ort, den sie gesucht hatte. Eine winzige Lichtung, die in nahezu allen Richtungen von dichtem Buschwerk umgeben war.
Aber bewegten sich dort nicht ein paar Zweige? War dort nicht gerade eine Gestalt von der Größe eines Hundes im Dickicht verschwunden? Mae wartete einen Moment ab, aber als nichts weiter passierte, zuckte sie mit den Schultern und sah sich kurz um, ehe sie sich hinsetzen wollte.
Wenn Gefühle wie Geräusche wären, dann ähnelten die von Mae einem Gongschlag, als sie die aufgewühlte Erde und das gegrabene Loch dahinter erblickte.
Langsam ging sie näher heran. Sie hockte sich hin.
Alles war mit loser Erde und feinem Wurzelgespinst überzogen.
Als sie genauer hinsah, erkannte sie zuerst verklebtes Fell mit dunkleren Flecken.
Nein, keine Flecken...
Das ist ja ein Kätzchen! Ach, aber es ist ganz voller Blut. Kein Atem mehr in der Brust. Oh weh! Da kann die alte Mae auch nicht mehr helfen. Wie schade!
Du bist ja ganz voller Erde! Als hätte dich jemand ausgegraben. Begraben denn Katzen ihre Toten?
Mae runzelte die Stirn.
Das habe ich noch nie gesehen. Überhaupt habe ich noch nie eine tote Katze gesehen. Was geschieht mit euch, wenn ihr geht?
* * *
Joker fuhr erschrocken herum. Da näherte sich jemand! Bei dem Höllenlärm, der durch die brechenden und reißenden Zweige entstand, hätte Joker eigentlich viel früher gewarnt sein sollen, aber er hatte sich ablenken lassen. Erschrocken schnellte er mit wenigen Sätzen in Deckung ins Gebüsch. Aber was war denn nun mit dem Kleinen? Er war tot. Joker hatte den leblosen Körper eine zeitlang angestarrt, ehe die Geräusche ihn aufgeschreckt hatten. Der kleine Katzenkörper lag immernoch ganz mit Erde beklebt in der Grube. Würde der Neuankömmling ihn finden? Die Sache war noch nicht erledigt, das mußte untersucht werden! Als er sicher war, nicht verfolgt zu werden, wendete er deshalb, schlich ein Stück zurück und observierte die kleine Lichtung durch das dichte Blattwerk.
Ein Mensch! Das war überraschend, aber wenigstens mußte er sich nicht sorgen, daß man ihn wittern würde. Menschen konnten das einfach nicht.
Es war eine alte Frau. Sie hatte sich hingehockt und betrachtete die Grube.
Joker arbeitete sich noch ein Stückchen weiter vor, kauerte sich flach auf den Boden und wartete ab.
Der Mensch erhob sich und begann zu sprechen.
Joker schaute zu, was als nächstes passieren würde, als ihm plötzlich klar wurde, daß er wußte, was passieren würde, weil er verstanden hatte, was dieser Mensch dort gebellt hatte!
Er hatte nach jemandem gerufen. Joker kratzte sich mit einem Hinterlauf am Ohr, aufs Äußerste verstört.
Natürlich verstand man irgendwann, was die Menschen von einem wollten, wenn man nicht gerade der Dümmste war, aber ihr Gebell war noch nie zuvor so verständlich gewesen wie Sprache.
Joker wurde aus seinen Gedanken gerissen und hielt wieder aufmerksam still, als sich die Zweige gegenüber bewegten und ein Schnurrer sich aus dem Dickicht löste. Er schien schon älter zu sein und sein Fell war verfilzt. Er roch nach alten Wunden und bewegte sich langsam und bedächtig auf das kleine Fellbündel zu.
Interessant. Wie kam es, daß dieser Schnurrer mit diesem Menschen zusammen auf Patrouille war? Hatten die Schnurrer neue Bündnisse geschlossen?
Joker unterdrückte das Knurren in seiner Kehle und schaute frustriert mit knisterndem Fell weiter zu, wie der alte Schnurrer den leblosen Kleinen behutsam aufhob und ihn neben der Grube ins Gras legte.
Die alte Menschenfrau ließ sich ächzend und umständlich auf dem Boden nieder, setzte sich zurecht und schaute dem alten Schnurrer einfach nur zu. Als Joker seine Aufmerksamkeit ebenfalls wieder auf ihn richtete, sträubte sich sein Fell, seine Augen weiteten sich und ihm stockte der Atem.
Heilige Scheiße! Es stimmt also! Die essen ihre Toten?!
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