Sein Auge blickte weit durch die Straßen der Stadt. Mit Genugtuung nahm er wahr, dass sich etwas verändert hatte. Da war nicht mehr das „alles bindende Netz“ welches die Realität in seine Form zwang, da war mehr. Man konnte es spüren, das Auge konnte die Veränderungen wahrnehmen, vielleicht sogar sehen... wenn es wusste, wonach es zu suchen hatte.
Er drehte seinen Kopf zu den anderen Beiden, welche in angemessenem Abstand warteten. Einer war heller als der andere.
„Der Rritus?“ fragte er mit krächzender Stimme
Der dunklere der beiden Wartenden antwortete: „Sie hätten es fast nicht bemerkt, doch die zahnlose Alte hat es noch gespürt. Roska heißt sie.“
Er hielt inne. „Rreaktion?“
Die Wartenden schienen beunruhigt und verlagerten ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. „Eine Zweifarbige ist aufgebrochen den Rat zu verständigen. Ihr Name...“
„... interressierrt mich nicht!“ Sein Auge funkelte. „Hunde?“ krächzte er barsch.
„Sie scheinen noch nichts bemerkt zu haben, aber...“
„Aberr was?“ unterbrach er ihn.
Die Anspannung war deutlich zu spüren. Es schien noch ein wenig kälter geworden zu sein und unweigerlich würde noch Blut fließen, wenn die beiden Wartenden ihn nicht beruhigen könnten.
Der hellere Begleiter antwortete schnell um nicht unterbrochen zu werden: „Ein Leser hat etwas bemerkt, aber er ist nicht völlig erwacht, er ahnt nur etwas. Aber er hat den Doktor kontaktiert.“
„Ein Leserr“ krächzte er langsam, so als wolle er das Wort kosten. Dieses wurmstichige Buch war wie ein verdammtes Gewitter auf dem Weg nach Süden: Es kam immer wieder... Sein Blick fiel auf den anderen Begleiter. „Jetzt noch? Schläft derr Mensch nicht? Menschen schlafen doch im Dunkeln, nicht wahrr?“ Die Begleiter blickten sich an, erwiderten aber nichts. Er drehte seinen Kopf wieder zur Stadt. „Die Firrma?“ fragte er.
„Die Firma wurde noch nicht informiert.“ krächzte der dunklere Begleiter wieder.
Er blickte hinaus und sein Auge durchstreifte die Gassen der Stadt. Der Anblick schien ihn zu beruhigen. Es lief immerhin auch nicht alles schief. Zwanzig Jahre... Zwanzig Jahre arbeitete er nun schon auf die Öffnung hin. Damals hatten die Gezähmten die Tore endgültig verschlossen. Vorher konnte man, nach einer Prüfung ein Tor benutzen, aber seit dem... In der Welt der Menschen ging das endgültige Verschließen unter in der sogenannten „Wiedervereinigung“ zweier bedeutungsloser Konstrukte des menschlichen Geistes. Er hatte sich die Worte der Zeit eingeprägt... Frieden, Abrüstung, Glasnost, Mauerfall, Montagsdemonstrationen... Die Welt der Menschen war so erbärmlich. Sie klammerten sich an Konstrukte um ihr Leben zu begreifen und was sie nicht konstruieren, nicht einsperren, nicht binden konnten, nannten sie Wahnsinn, Einbildung, Esoterik. Sie waren die mächtigsten und die dümmsten der Gezähmten. Mächtig weil sie so viele unterjocht und im Laufe der Jahrtausende an ihre eigene Existenz gebunden hatten. Katzen und Hunde, Schafe und Kühe... und wie viele Freie waren für immer verstummt? Und dumm waren sie, weil sie sich selbst gezähmt hatten. Nur manchmal loderte ihre Wildheit auf. Sie nannten es Krieg. Und doch war ihre Dummheit die größte Waffe gegen sie. Man konnte sie gegen die Menschen benutzen. Sie merken gar nicht wie sich die Realität verändert, hielten sie doch an ihrem ach so gesunden Verstand fest. Die Firma war die einzigen Organisation, die sehen wollten, die über Jahrhunderte gelernt hatten die Tore zu verstehen. Und doch dachten sie sie würden alles Wissen darüber kontrollieren und die Macht der Tore nur für sich nutzen. Sie waren Narren, aber nützliche Narren. Wenn man so tat, als wollte man ihnen Dienen, konnte man sie am besten manipulieren.
Seine Gedanken streiften zurück zu den Gezähmten und Zorn wallte in ihm auf. Sie stritten sich untereinander um die Brocken vergifteter Beute, die vom Tisch der Menschen herunterfielen. Vielleicht würden Einige nach Antworten suchen, doch die würden stolpern, straucheln und Beute werden. Er fragte sich wie sie es geschafft hatten lange genug zusammenzuarbeiten um den Schutz der Tore aus den Klauen der Freien zu bekommen. Und wie systematisch... wie menschlich sie vorgegangen waren... Sie hatten die Wölfe vertrieben, die Adler vergiftet, die Bären verhungern lassen... Er schob den Zorn beiseite und versuchte sich auf die Zukunft zu konzentrieren, den Weg, dem erst noch zu folgen war...
„Nurr die Rratten müssen mitspielen...“ hörte er sich unwillkürliche in die Stille der Nacht sagen und fügte in Gedanken hinzu: „... dann sind wirr frrei!“
Durch eine Straße fuhr ein Auto in Richtung des nahen Wäldchens und riss ihn aus seinen Träumen.
Er drehte sich um. „Ihrr beide tötet das zweifarrbige Kätzchen! Aber ihrr werrdet seine Seele nicht herraussaugen. Es muss wie...“ Wie sagten die Menschen dazu... „… wie ein Unfall aussehen. Ein Hund!“ Er hätte ihnen erklären können, dass die Macht aus dem Tor kam und zurückverfolgbar war, aber die beiden waren zu jung... sie würden später lernen... in Freiheit. Und ein wenig Ärger zwischen Hunden und Katzen passte ihm ausgesprochen gut. Er wartete bis die beiden weg waren, ehe er sich selbst aufmachte. Erst würde er in die Nervenklinik müssen, um die Firma zu informieren. Sie würden sich sicherlich um den Leser und die Frau Doktor kümmern. Und dann würde er seinen Platz im Rat einnehmen. Irgendwer würde Irgendwas merken... Und er musste verzögern, bis es zu spät war die Freiheit aufzuhalten.
Er streckte seine schwarzen Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Sein krächzender Schrei kündete von der Zukunft.
*
Das Auto hielt an und Frau Doktor Penelope Norris stieg aus. Eigentlich mochte sie solche Gegenden nicht. Sie machten ihr Angst... diese alten Forstindustriehäuser nahe der Wälder. Aber diesmal achtete sie nicht darauf. Sie blickte sich um. Sie suchte diesen Typen. Wenn er wirklich einen Beweis hätte... Es wäre nicht auszumalen... Sie könnte endlich die Menschen überzeugen... auf Facetube und Youbook... oder wie dieser neumodische Kram auch hieß... Sie horchte in die Nacht. Irgendwo kreischte ein Rabe. Dann hörte sie Musik, wie aus Kopfhörern und der Schatten bewegte sich. Heraus trat ein dunkelhäutiger Mann mit Hornbrille in einem Kapuzenpullover und riesigen Kopfhörern auf dem Kopf. Als er diese abnahm hörte Penelope die Stimme von Bob Marley: „I smoke two Joints bevor I smoke two Joints and then I smoke two more...“
„Dr. Norris?“ fragte der Mann.
„Graham?“ fragte sie zurück.
„Jap, aber ich wollte sicher sein, dass sie nicht ihre Schwester sind.“ er grinste.
Sie versuchte nicht darauf einzugehen. „Haben sie es hier?“
Er nahm seinen Rucksack ab und zog einen Laptop heraus. „Alles hier drauf.“ Er grinste.
„Sind sie bekifft oder warum feixen sie die ganze Zeit?“ Sie schaute sich nervös um.
Sein grinsen erstarb.
„Und packen sie den Computer wieder ein. Hier kann uns ja jeder sehen.“ Er tat wie ihm geheißen, ging mit seinem Rucksack an Penelope vorbei und setzte sich auf den Beifahrersitz ihre Autos. Gerade als sie etwas sagen wollte, grinste er wieder. Sie hasste Grahams selbstgefällige Art jetzt schon, aber was sollte sie tun? Sie stieg wortlos ein und fuhr los, während Bob Marley aus den Kopfhörern das Auto erfüllte.
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