Modern Times
30.01.2016
Änn
Kommentare: 2
*die unterstrichenen Wörter sind durchgestrichen

Der Fall Liddell wird inzwischen von Stunde zu Stunde seltsamer. Das meine ich nicht etwa, weil sich neue, faszinierende Formen ihrer Psychose offenbart hätten, die es zu protokollieren gäbe. In Wahrheit muss ich sogar gestehen, dass sich Miss Liddell im Augenblick überhaupt nicht in meiner Behandlung befindet. Insofern könnte ich mir tatsächlich die Vernachlässigung meiner ärztlichen Fürsorgepflicht vorwerfen, für die ich unlängst angeklagt wurde. Doch immer der Reihenfolge nach. Wie ich im letzten Eintrag erwähnte, beabsichtigte ich die Zusammenführung der Patientin mit Bekannten ihres Vaters, vor allem weil ich beurteilen wollte, inwieweit ihr unrechtmäßiger Aufenthalt in Bethlem der Wahrheit entspricht und welcher Teil der Geschichte ihrem Wahn entspringt. Da sie auf den Fortgang der Geschichte keinen unerheblichen Einfluss haben, möchte ich mir die Zeit nehmen, die Mitglieder dieser Gruppe etwas näher zu beschreiben. Zunächst einmal ist da  meine geschätzte Kollegin [auch wenn neuere Entwicklungen dem vielleicht widersprechen, kann ich nicht umhin, sie als solche zu bezeichnen] Miss Ackermann. Auch wenn ihr Fokus eher auf der menschlichen Physiognomie liegt, ist mir ihr Name bereits vorher bekannt gewesen, denn natürlich kam man in der Universität nicht umhin von der Frau zu hören. Dieser Druck, sich mehr als alle anderen behaupten zu müssen hat sie meines Erachtens zu einer äußerst fähigen Ärztin gemacht. [Ich muss bei Gelegenheit Abraham in der Sache telegrafieren.] Ihre Streitsucht Unfähigkeit zur friedlichen Argumentation ist vermutlich ebenso der Tatsache geschuldet, sich immer erklären und verteidigen zu müssen, weshalb sie von vornherein eine eher offensive Haltung einnimmt. Diese vertritt sie vor allem Mr. Adisa gegenüber. Wahrlich bin ich mir sicher, dass die meisten ihrer Unterhaltungen dem Austausch liebenswürdiger Gehässigkeiten dienen, die zeigen sollen, dass sie punktuell zwar einer Meinung sind, jedoch ein grundsätzlich anderes Weltbild haben.
Bei Mr. Adisa handelt es sich um einen Gentleman, den man gemeinhin als Medium bezeichnen würde. Auch wenn ich mich selbst als Mann der Wissenschaft bezeichne, so hat mir das Studium sowohl der Physis als auch des Geistes beigebracht, offen gegenüber Phänomenen zu sein, die im Randgebiet unserer menschlichen Vorstellungskraft liegen. [Schließlich kommt man bei meinem Arbeitsgebiet nicht umhin, sich mit Fragen der Metaphysik zu beschäftigen, doch ich schweife ab.] Da der Fall Alice Liddell fest mit Phänomenen okkulter Natur verbunden zu sein scheint, kann man über die Teilnahme von Mr. Adisa an dieser Unternehmung nur dankbar sein, zumal er die unbezahlbare Eigenschaft besitzt, spiritistische Vorgänge durch aphoristische Gleichnisse in die banale Welt zu holen. Zu guter Letzt wäre da noch Lady Carter – eine Frau, die sowohl dem Bild, dass ich immer von Damen der Gesellschaft hatte, entspricht, was Manieren und Liebenswürdigkeit betrifft, als diesem auch ganz radikal entgegensteht. Oder wie sollte man es sonst beschreiben, wenn eine Dame ihres Standes sich in einer solchen Begleitung [zu der ich mich ebenso zähle] ihren Weg durch Sanatorien und Armenviertel bahnt, angetrieben von – soweit ich das Beurteilen kann – Wissensdurst und Interesse?
Nun, die ungewöhnliche Gemeinschaft versammelte sich in meiner Praxis in Purfleet und Miss Liddell war zu diesem Zeitpunkt in einer ihrer eher schlechteren Phasen. Nichtsdestotrotz gelang es Mr. Adisa ein wenig zu ihr durchzudringen, als wir just von der Polizei unterbrochen wurden, die sich Zutritt zum Anwesen verschafft hatte. Sie beschuldigten mich, Miss Liddell gegen ihren Willen festzuhalten und zudem gar keine Berechtigung zu ihrer Behandlung innezuhaben. Die Beamten erwiesen sich als höchst verhandlungsresistent und das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Gefängnis erwachte. Mir wurde vorgeworfen, unrechtmäßig eine Tätigkeit im Bethlem Hospital auszuführen und außerdem nicht rechtmäßiger Besitzer der Immobilie in Purfleet zu sein. Ich spürte eine vertraute Panikwelle in mir aufsteigen, denn die düstere Umgebung der Gefängniszelle erinnerte mich nur allzu deutlich an meine Erfahrungen aus der Bastille. Unerwarteterweise bekam ich Hilfe von meinen neuen Bekannten, die mir versprachen, die nötigen Dokumente zum Beweis meiner Unschuld zu beschaffen.
Seitdem helfe ich ihnen, die zum Zeitpunkt meiner Verhaftung verschwundene entführte Miss Liddell wiederzufinden.
Offenbar ist meine Patientin Mittelpunkt einer sowohl politischen, als auch höchstgradig mystizistische motivierten Verschwörung, die ich nicht den Seiten dieses Tagebuchs anvertrauen werde, für den Fall, dass es in die falschen Hände gerät. Dass die Bedrohung wahr ist und sich bis in ungeahnt hohe Kreise zieht, lässt sich allerdings nicht leugnen. Dafür sprechen sowohl Miss Ackermanns unehrenhafter Ausschluss aus der Universität, meine Verhaftung, als auch der direkte Angriff auf offener Straße, dem Mr. Adisa und ich mich vor einer Stunde stellen mussten. Es ist kein Wunder, dass die Angstzustände wieder ein häufiger Begleiter meiner wenig passablen Nachtruhe sind. Da die Umstände jedoch meine volle geistige und körperliche Aufmerksamkeit verlangen, versuche ich gegenwärtig nur die körperlichen Symptome des Verzichts mit leichten Dosen Laudanum zu unterdrücke, ansonsten jedoch gänzlich auf Medikamente zu verzichten. Denn ich bin festen Willens, diese Angelegenheit aufzuklären, Miss Liddell wiederzufinden und meinen Ruf zurechtzurücken. Auch muss ich mir eingestehen, dass meine Beteiligung an dieser Unternehmung nicht allein dem Willen entspringt, meine berufliche Reputation wiederherzustellen. Vielmehr ist die Faszination für den Fall Alice Liddell ungebrochen. Wie ein geheimnisvolles Mantra verfolgen mich ihre Worte unserer letzten Sitzung und lassen mich nicht los...
Eben kehrt Mr Mason zurück [ein weiterer, höchstgradig interessanter Fall, den ich mir wohl für einen weiteren Eintrag aufheben werde] und es gilt unsere nächsten Handlungen zu besprechen... Ich werde die Aufführungen demnächst fortsetzen.


Mr. Adisa (Gast)
31.01.2016 14:12
We could be heros. Just for one day.
Lady Carter (Gast)
01.02.2016 21:19
Nun mein lieber Doktor, ein Tagebuch zu führen ist durchaus passend für einen Wissenschaftler, der doch dazu angehalten ist, alles zu dokumentieren. Ihre Vorsicht scheint mir dagegen ebenso angebracht. Ich denke doch, daß wir alsbald unseren gemeinsamen Weg fortsetzen werden.
Nicht nur durch Sanatorien und Armenviertel.
Ich erinnere mich auch gern - obgleich auch mit Schaudern - an ein Treffen in einem noblen, traditionsreichen Club in London.
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