Der Typ arbeitet sich gerade mit seinen Händen abwärts, als das Commlink in ihrer Tasche Alarm schlägt. Langsam löst sie sich von seinen Lippen und schaut auf das Display. Eingehender Anruf – Sis.
Im Club ist es laut und verschwitzt. Sie lehnt sich an sein Ohr. „Hey Süßer, könntest du dir mal kurz merken, was du mit mir anstellen wolltest? “ Ohne abzuwarten geht sie an der Bar vorbei zu der ruhigen Ecke draußen vor den Klos. „Hey Schwesterherz.“ „Leah?" Sie merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. „Ja klar. Alles okay bei dir?“ Pause. Dann, etwas zu schnell: „Ja klar. Ich bin gerade noch auf Arbeit, aber könnten wir uns vielleicht in einer halben Stunde im Loishs treffen?“ Leah nickt. „Sicher.“ „Gut, bis dann.“ Ihre Schwester legt auf. Verwirrt blickt Leah auf den Commlink. Es ist 23:38 Uhr. Sie lässt den Typen stehen und springt ins nächste Taxi. Bis nach Queens dauert es eine Weile.
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Leah schlug die Augen auf. „Pittsburgh. Wir sind gerade bei Pittsburgh.“, flüsterte sie in die Dunkelheit. Ihr Morgenritual. Sie drehte sich zur Uhr: 05:02. Immerhin hatte sie über fünf Stunden geschlafen. Sie war wie immer hellwach. Neben ihr im Bett lag Mara zu einem Knäuel zusammengekuschelt und schlief tief und fest. Sie lehnte sich zu ihr hinüber, gab ihr einen Kuss auf die Wange und stand auf. Moms Bett war, wie üblich leer. Barney oder Benny hieß der Kerl der Woche. Leah schlüpfte in ihre Sachen und trat vor die Tür. Vor dem Wohnwagen war es kühl. Sie startete mit ein paar Lockerungsübungen und lief dann los. Einfach nur bewegen. Um die anderen Wagen und das Zelt herum, hinaus aufs Feld. Adrenalin. Glücksgefühl.
Als sie verschwitzt wieder am Lager ankam, regte sich das Leben bereits. Fröhlich grüßte sie alle. Leah, das kleine Lagermaskottchen. Das war ihre Rolle. Sie schlüpfte zurück in den Wohnwagen. Ihre Schwester schlief immer noch. Also machte sie sich daran Frühstück zu kochen. Der Geruch von frisch gebratenem Eiersatz und Zuchtspeck erfüllten den Wagen. „Los, steh auf, Schlafmütze. Draußen wartet ein wundervoller Tag auf dich.“ Wie in Zeitlupe öffnete Mara die Augen. „Es ist ja noch mitten in der Nacht.“ „Ach Quatsch, es ist schon halb sieben. Die perfekte Zeit für ein Frühstück.“ Dabei hielt sie ihrer Schwester den Teller unter die Nase. „Ich hätte von meinem Rückgaberecht Gebrauch machen sollen, als Mum damals mit dir aus dem Krankenhaus zurück gekommen ist. Tut mit leid, aber ich will eine Schwester, die auch gerne etwas länger schläft. Mit dieser hier bleibt mir keine ruhige Minute.“ Leah lächelte. „Na wie gut, dass du damals nur unverständliches Zeug gebrabbelt hast. Schließlich weißt du doch genau, dass du mich liebst.“ Mara versenkte ihre Gabel im Speck. „Stimmt.“
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00:06 Uhr zeigt die Uhr, als sie vor dem Loishs aussteigt. Wow, pünktlich! Ihre Schwester wird begeistert sein. Sie betritt den kleinen Laden, der inzwischen so was wie ihr Standarttreffpunkt ist. Genau zwischen Maras Beinahe-Manhattan-Wohnung und dem dreckigen Loch in Brooklyn in dem Leah seit zwei Monaten haust. Drinnen ist es eher ruhig. Leise Jazz-Musik spielt im Hintergrund. An den Wänden sind idyllische Unterwasserszenen in gedämpften Licht projiziert. Ihre Schwester ist nirgendwo zu sehen. Leah sucht sich einen Platz und bestellt einen Drink. 00:10 Uhr. Mara hat nicht die Angewohnheit unpünktlich zu sein, selbst bei Zeitangaben wie: in einer halben Stunde. Sie war schon immer die große, zuverlässige Schwester gewesen.
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„Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“ Mara blickte ernst von ihren Schulheften auf. Vorbildlich wie sie war, hatte sie sich direkt nach dem Frühstück daran gesetzt. Leah verzog das Gesicht. „Muss ich?“ Sie hasste die Schule. Sie konnte sich beim besten Willen nicht lange genug konzentrieren um dem endlosen Gelaber der Lehrer zu folgen. Und das lange Stillsitzen war eine Qual. Mara war ganz anders. Sie liebte das. Trotz ihres ständigen Umherziehens bekam sie stets Bestnoten in den Tests. Sie lernte so viel wie möglich, machte ständig die Zusatzaufgaben und verbrachte die restliche Zeit, die ihr blieb mit lesen. Manchmal verglich ihre Mutter die Mädchen mit den zwei Seiten einer Medaille. Völlig gegensätzlich und doch untrennbar. Die Ruhige und die Wilde. Ying und Yang. „Wenn dich der Lehrer noch mal wegen nicht erbrachter Leistung schlecht benotet, ist der Kurs für dich gelaufen.“ Leah verdrehte die Augen. „Na schön.“
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00:34 Uhr. Ihr erster Drink ist leer und von Mara immer noch keine Spur. Sie zieht den Commlink hervor. Keine neue Nachricht. Na gut. Sie wählt ihre Nummer. Hört das Freizeichen. Dann startet die Aufzeichnung ihrer Schwester. „Hallo, sie sind mit dem Commlink von Mara Rumancek verbunden. Momentan kann ich ihren Anruf leider nicht entgegen nehmen. Bitte versuchen sie es später noch einmal oder hinterlassen sie mir eine Nachricht.“ Vielleicht ist sie gleich da und geht deswegen nicht ran?
Weitere zehn Minuten vergehen. Leah versucht es erneut. Besetztzeichen. Jetzt ist ihr Commlink aus. Inzwischen ist es 00:51 Uhr. Sie fasst einen Entschluss und steht auf. Verlässt das Loishs und fährt Richtung Manhattan.
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„Okay. Du versprichst mir, mich festzuhalten?“ Ihr Selbstbewusstsein war wie weggewischt. Sobald es um die Akrobatik-Übungen ging, wurde Mara vorsichtig und zurückhaltend. Das hier war Leahs Spezialgebiet. „Das weißt du doch. Ich fange dich immer auf. Hab ich dich jemals fallen gelassen?“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Schwester. „Natürlich nicht.“ Die fabelhaften fliegenden Zwillinge wurde ihre Nummer im Programm immer angekündigt. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie waren keine Zwillinge. Mara war ein Jahr älter. Sie hatten nicht mal den selben Vater, oder besser war es nicht sonderlich wahrscheinlich bei den Männergeschichten ihrer Mum. Darüber geredet hatte sie nie mit ihren Töchtern. Trotzdem waren sie einander immer zum verwechseln ähnlich gewesen. Die gleichen Augen, Haare, Statur. Der Leberfleck unter dem linken Auge. Jeder der die Show sah, hielt sie für Zwillinge. Doch wie lange würde das noch so gehen? Mara war im letzten halben Jahr gut drei Zentimeter gewachsen. Und auch andere Veränderungen machten langsam deutlich, dass sie erwachsen wurde. Manchmal, wenn Leah ihre Schwester so ansah, machte sie das wütend. Sie hatte immer geglaubt, dass sie und ihre Schwester für immer zusammen sein würden. Eine Einheit. Die Veränderungen führten ihr tagtäglich vor Augen, dass es nicht für immer so sein würde. Dass jede eines Tages ihren eigenen Weg gehen würde. Und dass dieser Tag schneller kommen würde, als sie sich das wünschte.
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Das Büro der Anwaltskanzlei Berrow, Burke und Partner befindet sich im 27 Stockwerk des Lewingston Hochhaus-Komplexes. Seit dem Ende ihres Jurastudiums, das sie natürlich mit Auszeichnung bestanden hatte, arbeitet Mara hier. Von hier aus muss ihre Schwester sie vorhin angerufen haben. Vielleicht ist irgendetwas dazwischen gekommen. Irgendjemand hat sie aufgehalten und Mara hatte keine Gelegenheit gehabt, sich noch einmal zu melden.
Leah betritt das Gebäudemonstrum aus Stahl und Glas. Mit einem Mal wird sie sich schrecklich bewusst, dass sie immer noch ihre Ausgehklamotten anhat. Der Blick der Nachtempfangsdame spricht Bände. „Sie wünschen?“ „Ich ... hatte einen Termin mit Mara Rumancek. Berrow, Burke und Partner.“ „Einen Moment bitte.“ Das schnelle Klicken der Plastikfingernägel auf dem Interface klingt in der leeren Lobby unnatürlich laut. „Miss Rumancek hat das Gebäude vor 20 Minuten verlassen.“ Leah schaut auf die Uhr. Es ist 1:35 Uhr. Dass ihre Schwester durch irgendwas aufgehalten wurde, steht nun außer Frage. Sie beißt sich auf die Lippen. „Ich bin ihre Schwester, müssen sie wisse, hier meine ID. Sie wollte sich unbedingt mit mir treffen. Es klang dringend. Hatten sie den Eindruck, dass irgendetwas unnormal oder seltsam war?“ Die Frau, das Hologramm vor ihr weist sie als Ms. Atkins aus, überlegt kurz. „Das ist schwer zu sagen. Sie verließ das Gebäude auf ziemlich direkten Wege.“ „War sie allein?“ Ein leichtes Zucken des Kopfes. Ein sorgenvolles Bedauern. „Nein, aber ich befürchte ich bin leider nicht befugt ihnen mehr zu sagen.“ Das war klar. „Danke. Dann warte ich wohl einfach, bis sie sich meldet.“ Leah wendet sich bereits zum Gehen, als ihr etwas einfällt. „Wegen den Begleitern... denken sie, ich muss mir wegen irgendetwas Sorgen machen?“ Die Frau schluckt.
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Draußen tobte die Menge. Die neue Nummer ihrer Mutter war eingeschlagen wie eine Bombe. Nicht umsonst war sie einer der großen Stars der Show. Hinter dem Vorhang tanzten ihre Mädchen die Choreografie nach. Alberten herum und lachten. Der Applaus dauerte fast drei Minuten an. „Ohje. Armer Killian“, bemerkte Mara. „Danach auftreten zu müssen ist bestimmt nicht leicht.“ Sie winkte dem Messerkünstler aufmunternd zu. „Ach, Quatsch. Das, was er macht ist doch auch ziemlich cool. Wenn wir unsere Nummer irgendwann nicht mehr machen können, will ich das auch mal ausprobieren.“ Mara biss sich auf die Lippen, sagte aber nichts dazu. Auch sie hatte in letzter Zeit bestimmt oft darüber nachgedacht, dass sie ihre Zwillings-Geschichte nicht mehr lang machen würden. Ihre Mum tauchte unter dem Vorhang durch. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen strahlten. „Na meine Süßen. Bereit für euren Auftritt? Ihr seid dann gleich als nächstes dran.“ Mara und Leah nickten stumm. „Viel Glück“, wünschte ihre Mum und schwebte davon. „Okay. Du weißt noch alle Figuren? Denk dran, es ist jetzt ein Rückwärts-Salto beim dritten Wurf.“ Mara zählte leicht nervös alle wichtigen Wendungen auf. Leah packte ihre Hand. „Wird schon schief gehen. Ich bin da. Und sollte irgendwas schiefgehen... ein Krampf oder sollte ein Seil ärger machen...“ „Ich weiß“, unterbrach Mara. Sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger. „Dann mach ich unser Zeichen.“ Vor dem Vorhang brandete erneut Applaus auf. Die Schwestern atmeten einmal tief durch und schritten auf die andere Seite.
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Es ist 10:52 Uhr am nächsten Tag, als sie beschließt, eine weitere Möglichkeit auszuschöpfen. Sie durchsucht ihr Commlink nach den Kontaktdetails. Da. Sis – Büro. Sie wählt und schon kurze Zeit später hat sie die geschäftige Stimme von Maras Sekretärin Felicity am Apparat. „Hallo, hier ist Leah Rumancek. Ich wollte fragen ob meine Schwester da ist?“ „Nein.“ Das war zu erwarten. „Wissen sie, wo sie sein könnte?“ „Nein. Das weiß ich nicht.“ Auch das. „Sie hat mir gestern Nacht lediglich eine Mitteilung geschrieben, dass ich alle Termine heute absagen soll, da sie wegen einer dringenden Angelegenheit frei machen muss.“ „Und wann war das?“ „Ich habe die Nachricht um 2:02 Uhr erhalten.“ Also nachdem sie das Gebäude verlassen hatte. Und warum hatte sie sich nicht bei Leah gemeldet? „Danke, Felicity. Könnten sie mir Bescheid sagen, wenn sie von ihr hören?“
Die Zeit vergeht. Leah ist in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Neben ihr spielen die alten Platten ihrer Mutter. Sie lauscht der Musik. Wartet, dass ihr Commlink sie unterbricht. Doch da sind nur die Lieder und mit ihnen die Erinnerungen.
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Es war spät. Sie waren alle zusammen. Mum, Mara und Leah. Die Schwestern lagen bereits in ihrer Schlafkoje im Wohnwagen, doch keine wollte schlafen. „Singst du uns was vor?“ Ihre Mutter lächelte. „Seid ihr nicht eigentlich zu alt für ein Gute-Nacht-Lied?“ Das waren sie wohl. Aber dieser kurze Moment des Familienlebens musste ausgekostet werden. Bald würde ihre Mum wieder in die Nacht verschwinden und erst morgen zurückkehren. Mara und Leah warfen sich einen Blick zu. „Eindeutig Nein!“, riefen sie einstimmig. Mum lächelte. „Ihr seid schrecklich. Na gut.“ Sie setzte sich zu beiden ans Bett und strich ihnen übers Haar. Ihre Stimme erfüllte den Raum.
Has anyone ever written anything for you
In all your darkest hours
Have you ever heard me sing
Listen to me now
You know I'd rather be alone
Than be without you
Don't you know...
Als sie fertig war, schief Mara bereits. Mum gab Leah einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Nun wird es aber Zeit. Schlaf schön, mein Schatz.“ Leah drehte sich zu ihrer Schwester um. „Na gut.“ Als sie schließlich einschlief, waren ihre Finger fest mit denen von Mara verwoben.
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15:21 Uhr betritt sie das Gebäude der örtlichen Polizeistelle um das Verschwinden ihrer Schwester zu melden. Vielleicht kann man sie suchen lassen? Nach ewigen Warten, sich Durchfragen und erneutem Warten landet sie schließlich bei einem Detective Wheeler. „ Ich würde gerne jemanden als vermisst melden. Oder eigentlich weiß ich gar nicht, ob das schon geht. Dafür gibt es doch irgendwelche festgeschriebenen Fristen, oder?“ Der Beamte lächelt. „Ja, üblicherweise warten wir 24 Stunden, bevor wir jemanden zur Fahndung heraus geben.“ Leah schaut ihn lächelnd an. „Aber sie können doch bestimmt schon vorher etwas für mich tun, oder?“ Er kratzt sich am Kopf. „Ähm... klar, ich werde einfach die Daten von ihnen aufnehmen... also ich meine, ihrem Fall und wenn die Frist abgelaufen ist, geht das Ganze dann sofort raus, falls sich bis dahin am Status nichts ändert.“ „Okay. Der Name der vermissten Person ist Mara Rumancek. Sie ist meine Schwester.“ Gerade will er zu einem „Und ihr Name ist?“ ansetzen, als ihm ein Kollege auf die Schulter tippt. „Mitch, der Boss will dich sehen. Ich mach das hier für dich fertig.“ Detective Wheeler schaut ihn widerwillig an. „Weißt du, worum es geht?“ Der andere zuckt nur die Schultern. Langsam steht der Polizist auf und verlässt den Raum. Kurz schaut er in Leahs Richtung, bevor er die Tür hinter sich schließt. Der Andere dreht sich mit Zahnpastawerbungslächeln zu ihr um. „Womit kann ich ihnen helfen?“ Leah beginnt erneut. Erklärt die Situation. „Und weshalb genau denken sie, es sei etwas nicht in Ordnung? Ich meine, so wie es scheint hat sich ihre Schwester bei ihrer Arbeit abgemeldet.“ Sie beißt sich auf die Lippen, denkt an den Anruf von gestern Nacht. „Es ist einfach so ein Gefühl...“ Er nickt verständnisvoll, aber dahinter lauert ein abwertendes „Aha... so ein Gefühl“. „Sie hat sich einfach noch nie... nicht zurückgemeldet, verstehen sie. Besonders nicht, wenn ihr was dazwischen gekommen ist.“ „Sind sie sich ganz sicher? Ich meine, haben sie ihre Nachrichten immer gecheckt? Vielleicht hat sie inzwischen angerufen?“ Leah steht ruckartig auf. „Natürlich habe ich meine Nachrichten gecheckt! Ich mache seit 16 Stunden nichts anderes!“ Er bleibt ganz ruhig. „Dann tun sie es noch einmal, für mich okay?“ Wütend zieht sie ihr Commlink hervor und schaut für den Bruchteil einer Sekunde drauf. Triumphierend will sie es schon wieder zurück stecken, da sickert der blinkende Text in ihr Bewusstsein. Sie haben eine neue Nachricht.
„Und?“ Der Polizist schaut sie interessiert an. „Einen Augenblick bitte. Darf ich kurz raus?“ Zur Antwort macht er eine Schwungvolle Geste zur Tür. Draußen starrt sie auf die Details. Uhrzeit: 16:05 Uhr, Absender – Sis. Sie drückt Wiedergabe und das Gesicht ihrer Schwester erscheint. „Hallo Lee, tut mir voll leid, dass es gestern nicht mehr geklappt hat und dass ich mich erst jetzt melde. Ich bin von einem wichtigen Fall aufgehalten worden, zu dem wir in letzter Sekunde noch ein Meeting machen mussten. Da hab ich dann festgesteckt und konnte mich nicht melden. Ich bin jetzt auch erst einmal ein paar Tage nicht in der Stadt, wegen dieser Geschichte. Ist ein ziemlich wichtiger Klient, du verstehst das bestimmt. Ich melde mich sofort wieder bei dir, wenn ich zurück bin. Liebe dich.“ Leah spielt die Nachricht ein zweites Mal ab. An der Stelle mit dem Klienten stoppt sie. Tatsächlich. Es war keine Einbildung. Mara kreuzt Zeige- und Mittelfinger. Ihr Zeichen dafür, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. „Ist alles Okay bei ihnen?“ Der Polizist streckt den Kopf zum Büro raus. Leahs Gedanken rasen. „Oh. Sie hat sich tatsächlich gemeldet. Ist ja fast als hätten sie es gewusst.“ Sie lacht nervös. „Ja, genau als hätte er es vorher gewusst,“ denkt sie. „Was geht hier eigentlich vor?“ „Das ist doch wunderbar. Sehen sie, kein Grund zur Sorge. Freut mich dass wir helfen konnten.“ Leah verlässt das Gebäude auf dem schnellsten Wege und denkt: „Ja, du mich auch.“
Die Wohnung ihrer Schwester ist nahezu lächerlich ordentlich. Fast als wäre es ein Bild aus irgendwelcher Hochglanz- Werbung für schöner Wohnen. Aber da sind auch die Fotos: Von ihrer Mum, von Maras Collegeabschluss und immer wieder von den beiden Schwestern. Altmodische ausgedruckte Fotos in Bilderrahmen. Liebevoll streicht Leah über das Holz. Das Schlafzimmer ist unberührt. Soweit sie das beurteilen kann, fehlen im Kleiderschrank keine Klamotten. Nichts wirkt unnormal. Dann wendet sie sich ins Arbeitszimmer. Auch hier ist es nahezu klinisch sauber. Und doch fällt ihr schnell auf, dass mit der Ordnung etwas nicht stimmt. Zwei Aktenordner im Regal stehen in der falschen Reihenfolge. Das Jahr 2068 vor 2067? Sie zieht beide Ordner heraus. Drinnen sind verschiedene Discs mit Backups abgeheftet, alle fein säuberlich beschriftet. August 2068 fehlt. Der Commlink ihrer Schwester ist natürlich nicht da, aber den hat sie eh immer dabei. Nichts ungewöhnliches. Versuchsweise öffnet Leah die Disc vom September auf ihrem eigenen Commlink. Aber die Dateien, die nicht verschlüsselt sind, sind nur irgendwelche Zahlen von Quartalsberichten und Memos über irgendwelche Firmenangelegenheiten. Ihre Schwester beschäftigt sich mit Konzernrecht, aber viel genauer hat es Leah nie interessiert. Widerwillig sortiert sie die Disc wieder ein und stellt alles an seinen Platz. Eine Möglichkeit bleibt noch. Wie sie selbst war Mara ohne Commlink aufgewachsen. Sie hat gelernt, sich auf anderem Wege Notizen zu machen, und das war eine Gewohnheit, die man nicht so schnell ablegte. In der Hintersten Ecke ihres Nachttischchens findet sie es schließlich: ein kleines, gebundenes Notizbuch. Es hat bestimmt ein halbes Vermögen gekostet. Die Seiten sind dicht mit Maras ordentlichen Handschrift beschrieben. Meist steht zu den Notizen ein Datum und ein Thema. „Betrifft: Verkauf der Patentrechte von Biodeck“ oder „ Präzedenzfall: Vgl. Urteil Konzerngerichtshof 12. 08. 2059“ zum Beispiel. Leah blättert zu den letzten beschrieben Seiten und überfliegt sie. Als sie begreift, was sie da liest, klappt sie das Buch sofort wieder zu. Sie schaut sich im Zimmer um. Ist sie wirklich alleine? Sie setzt sich in eine dunkle Ecke und beginnt erneut zu lesen.
„Betrifft aktuelle Geschäftsunterlagen Ares:
Feststellung einiger Unstimmigkeiten im vorliegenden Quartalsbericht
und den eingereichten Unterlagen zu Knight Errant
einige Lücken werfen Fragen auf, die in erneuten Gesprächen zu klären sein werden...“
Der Text geht noch weiter. Ihre Schwester hatte die einzelnen unschlüssigen Teile der Verträge notiert und dazu ihre Fragen geschrieben. Fragen, die man bestimmt nicht gerne gehört hatte. Ihr fällt wieder der Blick von Ms. Atkins ein. Wie sie sich schnell umgeschaut hatte, angstvoll. In Leah keimt eine Ahnung auf, wer gestern Nacht die Begleitung ihrer Schwester gewesen war. Knight Errant. Der Polizist von vorhin. Ihre Sorgen der letzten 24 Stunden explodieren. Was wenn ihre Schwester etwas entdeckt hatte, dass sie in Gefahr brachte? Wenn sie mit ihr darüber sprechen wollte und sie deswegen angerufen hatte? Wenn ihr Verschwinden kurz darauf kein Zufall war? Wo war sie jetzt? Und vor allem, würde sie sie finden können? Andere Gedanken drängte sich in ihr Bewusstsein. Worte wie lebendig und tot, niemals und für immer spielten darin eine Rolle. Mit aller Kraft schob sie sie weg. In diesem Moment beschloss sie, auf eigene Faust herauszufinden, was geschehen war. Sie würde ihre Schwester finden, koste es, was es wolle.
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