Andrew Townsend
16.12.2013
Sonnata
Kommentare: 1
"Das Leben und der menschliche Körper, Andrew, sind Wunder. Kein Mensch könnte sich je ein so komplexes System ineinandergreifender Kreisläufe und Funktionen ausdenken."
Die Augen des älteren Mannes im weißen Kittel leuchteten, als er über sein Lieblingsthema sprach. Andrew nickte lächelnd und ließ sich von der Begeisterung seines Professors anstecken.
Jener deutete in den aufgeschnittenen Torso auf dem Seziertisch neben ihnen.
"Sehen sie diese Struktur aus Fettgewebe? Können sie mir sagen, was das ist?"
Andrew schaute sich das Gewebe und seine Lage im Körper an.
"Das ist ein Thymus... gewesen. Das Objekt hat offenbar die Pubertät schon überschritten, weshalb sich der Thymus bereits zurückgebildet und in Fettgewebe umgewandelt hat."
Der Professor nickte.
"Richtig. Geben sie mir einen kurzen Abriss über die Funktion des Thymus."
"Nun, in der Kindheit dient der Thymus sozusagen der Ausbildung der T-Lymphozyten, die eben deshalb das T im Namen tragen. Sie werden dort darauf trainiert, körpereigene Zellen von körperfremden zu unterscheiden. So zerstören sie nicht das eigene Gewebe."
Der Professor nickte mit leuchtenden Augen.
"Ist das nicht schlau? Können sie sich vorstellen, wie lange es wohl gedauert haben mag, bis im Verlaufe der Evolution ein solches Organ entstanden ist? Einzig durch Versuch und Irrtum schreitet die Natur voran. Wie sehr der Thymus mit dem Immunsystem verknüpft ist! Überlegen sie nur, was hier alles schief gehen kann!"
Der Professor setzte seinen leidenschaftlichen, schwärmerischen Monolog fort.
Andrew hörte zu, betrachtete den Leichnam, wenn der Professor ihm etwas zeigte, und antwortete auf die Fragen, die er stellte.
Allmählich begann er, zu begreifen, worauf sein Mentor hinaus wollte. Jeder Kreislauf aus Ursache und Wirkung, Veränderung, und An- und Abschaltung war für sich allein bereits ein faszinierendes, ausgeklügeltes System. Aber wie all diese verschiedenen Einzelteile im Körper ein fragiles Gleichgewicht bildeten und wie ein Orchester zusammenspielten, um einen vollkommenen Klang zu erzeugen, das war in der Tat ein Wunder.
Ehrfürchtig schaute er sich an, was der Professor ihm erklärte, staunte über die vollkommenen Formen der Organe, die unterschiedlichen Strukturen und Farben der Gewebe. Es lag tatsächlich eine fremdartige Schönheit darin und er erkannte eine beinahe mathematische Logik. Man konnte sich in diesen kausalen Grübeleien verlieren.
Dieses Organ hatte diese Funktion, jenes dort eine andere. Was geschah, wenn eines davon ausfiel? Welche Folgen mochte es haben, wenn beide versagten? Welche Faktoren störten diese Funktionen?
Er zuckte zusammen, als ihn jemand an der Schulter berührte und fand sich plötzlich am Seziertisch neben seinem Professor wieder, der ihn fragend anschaute.
"Andrew? Sie haben nicht mehr geantwortet." Der ältere Mann schmunzelte. "Das Seminar ist beendet. Ich muß gleich den Saal abschließen."
Andrew murmelte verlegen lächelnd eine Entschuldigung und verließ zusammen mit dem Professor den Raum.
Seither hatte diese Faszination nicht nachgelassen. Jeder Leichnam, der auf seinem Tisch landete, war eine Frage, die darauf wartete, beantwortet zu werden. Die Suche danach glich jedes Mal aufs Neue der spannenden Erforschung eines Rätsels.
Die Fakten waren das Wichtigste. Nur die Fakten sprachen die Wahrheit, alles andere war eine Interpretation, die auf den Erfahrungen und Vorstellungen der Person beruhte, die diese Überlegungen anstellte.
Niemals hatte sich Andrew Gedanken über die Schicksale dieser Fragen und Rätsel gemacht, die er untersuchte. Niemals hatte er diese Objekte als lebendige Personen kennen gelernt.
Nie hatte er mit ihnen gesprochen, getrunken, oder gegessen, ihre Stimmen gehört, oder ihnen in die Augen geschaut, an ihrem Blick etwas abgelesen, und geglaubt, den anderen zu kennen. Niemals hatte er sich Gedanken gemacht, was es für die Angehörigen bedeuten mochte, daß diese Person gestorben war und jetzt fehlte.
Niemals hatte er mit ansehen, oder -hören müssen, wie diese Person vom Leben zum Tode gekommen war. Wie das Blut einfach unaufhaltsam den Körper verließ.
Niemals.
Niemals zuvor.
21.12.2013 16:17
Ich finde es ja immer toll, wenn man zwar eine Rückblende erzählt, diese sich am Ende aber als Reaktion auf eine aktuelle Sitauation entpuppt. Applaus! Applaus! Schöner Text!
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