Momentaufnahme
29.05.2019
Momper
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"Manchmal schenkt das Leben Dir Trauben. Und manchmal sind es Rosinen."
Zunächst einmal klingt dieses Sprichwort einleuchtend: Trauben sind supergut. Rosinen sind superschlecht.
"Aber Moment mal!", protestieren da einige, "Rosinen sind doch auch supergut. Nicht zuletzt gibt es ja auch das sprichwörtliche "sich die Rosinen rauspicken", was ja wohl bedeutet, sich nur das Beste zu nehmen. Und außerdem: So groß ist der Unterschied zwischen Trauben und Rosinen ja wohl nicht. Das ist doch fast das Gleiche."
Aber das, Einige, ist grundfalsch!
Über das Gutsein von Weintrauben lasse ich keine Diskussion zu. Weintrauben sind grüne oder rote Freukugeln der unverkennbaren Lebendigkeit. Sie zu essen ist, als würde man einen inspirierenden, weltoffenen, neugierigen, unverbrauchten Menschen kennenlernen. Man begegnet ihm und weiß, eine erfüllende Zeit steht bevor, und wie auch immer diese Zeit endet, man wird sie als befriedigend empfinden. Vielleicht entwickelt sich eine lebenslange Freundschaft, vielleicht auch eine kurze, aber aufregende Liebschaft, vielleicht auch das ganz große Glück, die eine große Sache, mit der nichts anderes mithalten kann. Ein einziger Moment mit diesem Menschen reicht, um zu erfassen, was andere in harten Drogen finden.
Im Gegensatz dazu: Rosinen zu essen ist, als hätte man sich tagelang durch trockene Hitze und Wüstensand geschleppt. Der Sand ist aufdringlich unter die Kleidung und in die Schuhe gekrochen und man hat keinen Tropfen Wasser mehr im Leib. Doch statt eine rettende Oase zu finden, stolpert man über ein längst vergessenes Grab. Heraus wankt die Gestalt eines vor 5000 Jahren mumifizierten Menschen, der sagt: "Küss mich!" Schon reißt die Kreatur sich die Bandagen vom Faulgesicht und öffnet den Mund. Und weil schon längst keine Lippen mehr da sind, nähern sich braune Zahn-Stümpfe, die den Blick frei geben auf den verdorrten, dunklen, obszönen Schlund der Hölle.
Weintrauben und Rosinen sind nicht das Gleiche! Sie sind das Gegenteil voneinander. Frische und Fäule. Anziehung und Ekel. Leben und Tod.

Wenn man also ausdrücken will, dass das Leben voller Überraschungen steckt, die gut und vielleicht auch schlecht sein können, dann soll man von nun an sagen:
"Manchmal schenkt das Leben Dir Trauben. Und manchmal sind es Rosinen."
#raisins – als knackiger Internet-Sprech – ist auch denkbar.

Nachtrag: Warum wir in einer Kultur leben, in der Menschen sich ihre Speisen mit verrotteten Trauben verderben, muss in einem anderen Aufsatz behandelt werden.
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